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Yasmine Motarjemi: Was bei der Nestlé-Affaire nicht zur Sprache kam

01.05.2023

Mitte Februar wurde ein schweizweit aufsehenerregendes Urteil publiziert: Nestlé muss der ehemaligen Verantwortlichen für die Lebensmittelsicherheit – Yasmine Motarjemi – wegen Mobbing 2 Millionen Franken für ihren Erwerbsausfall und 100'000 Franken an ihre Gerichtskosten bezahlen. humanrights.ch begleitete diesen Fall seit mehreren Jahren als strategischen Prozess, weil es dabei nicht - wie oft von Medien und Nestlé dargestellt - um einen einfachen Arbeitskonflikt, sondern vielmehr um die Gesundheit von Millionen von Menschen geht. In unserem Interview erklärt Yasmine Motarjemi die Hintergründe.

 

Sehr geehrte Frau Motarjemi, Mitte Februar wurde ein aufsehenerregendes Urteil veröffentlicht. Nestlé muss Ihnen 2 Millionen Franken für den Einkommensverlust aufgrund von acht Jahren Erwerbsausfall sowie 100 000 Franken für die Gerichtskosten zahlen. Welche Bedeutung hat dieses Urteil?

Im Urteil wurde die Geschäftsleitung von Nestlé für das Mobbing gegen mich verantwortlich gemacht. Die Geschäftsleitung hatte auf der einen Seite nichts unternommen, um mich vor den Belästigungen zu schützen. Andererseits wurde vor allem auch festgestellt, dass die Geschäftsleitung am Mobbing mitschuldig war, indem sie mich beispielsweise zwang, einer Strafversetzung zuzustimmen und eine falsche sowie voreingenommene Mobbinguntersuchung durchführte – und dies drei Jahre nach meiner ersten Beschwerde. Das Gericht bestätigte auch, dass Nestlé nicht auf meine Gesundheitswarnungen reagiert hatte, obwohl diese dringend eine Mängelbehebung nahelegten. Durch das Ignorieren meiner Warnungen hat Nestlé mich diskreditiert. Denn ich war besorgt um die korrekte Handhabung der Sicherheitsbestimmungen für Nestlé-Produkte. Darunter habe ich ausserordentlich gelitten, zudem war dieses Ignorieren meiner Warnungen ein zusätzlicher Akt der Belästigung.

Was sind aus Ihrer Sicht die Gründe, dass Nestlé den Fall nicht mehr vor Bundesgericht weiterzieht?

Nestlé verzichtet wahrscheinlich auf eine Beschwerde beim Bundesgericht, weil ihre Erfolgschancen minimal sind und ein Urteil dieser Instanz eine viel stärkere mediale und juristische Resonanz hat als das Urteil des Kantonsgerichts. Zudem würde durch ein Urteil des Bundesgerichts zum Thema Mobbing der Schutz der Arbeitnehmenden gestärkt. In gewisser Weise bedauere ich, dass Nestlé keine Berufung eingelegt hat, denn ich hätte mir gewünscht, dass die Gesellschaft von meinem Kampf profitiert. Heute scheint mir ein Gesetz zur Verhinderung von Mobbing wichtiger denn je.

Wie ist das Gerichtsverfahren abgelaufen?

Das Urteil des Zivilberufungsgerichts des Waadtländer Kantonsgerichts ist das Ergebnis eines langen, sechs Etappen umfassenden Weges. Zunächst wurde im Rahmen eines Schlichtungsverfahrens versucht, eine einvernehmliche Lösung zu finden. Zwischen 2011 und 2019 fand der Prozess in erster Instanz statt, der durch verschiedene Anträge und Verzögerungsmassnahmen seitens Nestlé aufgeschoben wurde – insbesondere durch eine Klage gegen die Richterin, die der Konzern noch vor Beginn der Anhörungen einreichte. Anschliessend wandte ich mich an das Zivilberufungsgericht des Waadtländer Kantonsgerichts, dessen Urteil vom 7. Januar 2020  das Urteil des Bezirksgerichts Lausanne anzweifelte und Nestlé in der Sache verurteilte. Im Februar 2020 legte Nestlé beim Bundesgericht Berufung ein. Diese wurde jedoch umgehend als unzulässig erachtet, da sie bereits vor dem endgültigen Urteil des Kantonsgerichts eingereicht worden war.

Im Jahr 2021 entschied das erstinstanzliche Gericht über den mir zustehenden Schadenersatz und meine Prozesskosten. Dieses Urteil war unangemessen. Daher musste ich erneut Berufung beim Zivilberufungsgericht des Kantonsgerichts Waadt einlegen, das am 29. November 2022 ein endgültiges und angemesseneres Urteil fällte. Dieses Urteil wurde mir am 27. Dezember 2022 zugestellt.

Decken die Entschädigungszahlungen alle entstandenen Kosten?

Nestlé muss sowohl einen grossen Teil meines steuerpflichtigen Erwerbsausfalles zahlen, als sich auch an den Kosten des Gerichtsverfahrens beteiligen. Nach Waadtländer Gesetzgebung wird die Höhe der Rückzahlungen an die geschädigte Partei pauschal berechnet. Da eine solche Pauschalberechnung nicht berücksichtigt, dass die Kosten in einem Prozess gegen einen Konzern von der Grösse Nestlé’s um einiges höher ausfallen können, deckt der Betrag leider nicht meine gesamten finanziellen Verluste.

Wurden Sie unter Druck gesetzt, das Verfahren einzustellen?

Ja, während des gesamten Verfahrens wurde versucht, meine Ressourcen zu erschöpfen, seien es die zeitlichen Ressourcen, meine Energie oder meine finanziellen Ressourcen. Beispielsweise stellte sich meine Rechtsschutzversicherung AXA auf die Seite von Nestlé und forderte mich auf, eine aussergerichtliche Vereinbarung mit dem Konzern zu unterschreiben. Im Jahr 2011 musste ich ein Schiedsverfahren gegen AXA einleiten, das ich 2012 gewann. Jedoch war damit die Geschichte noch nicht zu Ende. Nestlé berief den CEO von AXA, Henri de Castries, in ihren Verwaltungsrat. Kurz darauf legte AXA auf Bundesebene Berufung gegen die Entscheidung im Schiedsverfahren ein. Schlussendlich gewann ich allerdings auch dieses Verfahren.

Zudem klagte der Nestlé-Pensionsfonds vor dem Sozialversicherungsgericht gegen mich, da man dort der Ansicht war, meine wissenschaftlichen Publikationen, die ich veröffentlicht hatte, um aus meinem psychischen Tief herauszukommen und um einen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, meinen Anspruch auf eine Invalidenrente in Frage stellten. Glücklicherweise gewann ich auch dieses Verfahren. Darüber hinaus verklagte mich Nestlé wegen eines Interviews im Westschweizer Fernsehen, obwohl ich lediglich den Gegenstand meines Verfahrens und die Meinungsverschiedenheiten mit meinem Vorgesetzten, die zu meiner Entlassung geführt hatten, darlegte. Schliesslich versuchte man auch hier, mich zu einer gütlichen Einigung zu drängen.

Was war ausschlaggebend dafür, dass Sie diesen Kampf auf sich nahmen? Was war das Ziel des Prozesses gegen Nestlé?

Ich habe schreckliche Erfahrungen mit dem Umgang mit der Lebensmittelsicherheit, dem Personalmanagement und dem Risikomanagement gemacht. Es war inakzeptabel für mich, dass eines der grössten Lebensmittelunternehmen der Welt mit Millionen von Konsument*innen so agiert. Meiner Meinung nach waren wir mit drei Problemen im Bereich der öffentlichen Gesundheit konfrontiert: Lebensmittelsicherheit, Mobbing gegenüber Angestellten und Umgang mit Warnmeldungen.

Ich hatte das dringende Bedürfnis, die Behörden über meine Erfahrungen und Erkenntnisse zu informieren und ihre Meinung einzuholen. Da ich es mir nicht leisten konnte, sowohl einen Prozess wegen Belästigung als auch einen Prozess gegen das Management der Lebensmittelsicherheit zu führen, reichte ich - aus strategischen Überlegungen - eine Klage in meinem persönlichen Fall ein. Die Klage wurde zivilgerichtlich behandelt, da Mobbing in der Schweiz nicht im Strafrecht verankert ist. In Bezug auf die Lebensmittelsicherheit beschloss ich, Berichte an die Gesundheitsbehörden der betroffenen Länder zu schicken. Leider funktionierten die nationalen Warnsysteme jedoch nicht und meine Berichte wurden nicht bearbeitet.

Warum haben Sie sich nicht auf eine aussergerichtliche Einigung eingelassen, die Ihnen den ganzen Rechtsstreit erspart hätte?

Mehrmals schlug mir Nestlé eine «gütliche Einigung» vor. Selbst die erstinstanzliche Richterin befürwortete diese Form der Konfliktlösung. Die Vereinbarungen, die mir vorgelegt wurden, enthielten jedoch immer eine Bedingung: Ich musste über meine Erfahrungen bei Nestlé und den angebotenen Betrag Stillschweigen bewahren. Ausserdem war Nestlé nicht bereit, die Verantwortung für das Mobbing mir gegenüber, für das mangelhafte Sicherheitsmanagement der Produkte oder die ungenügende Reaktion auf meine Warnungen anzuerkennen.

Ohne Eingeständnis seitens Nestlé hielt ich das Vorgehen des Konzerns weiterhin für eine Gefahr für die öffentlichen Gesundheit, sowohl was die Produktsicherheit als auch das Mobbing von Angestellten betrifft, denn der zweite Aspekt ist eng mit dem ersten verknüpft. Zudem wären ohne Offenlegung der Fakten diese sozialen Probleme unter den Teppich gekehrt geworden, was aus meiner Sicht Bestechung und Korruption weiter gefördert hätte.

Es ist höchste Zeit, dass wir uns der Notwendigkeit vollständiger Transparenz in Bereichen bewusst werden, die öffentliche Interessen betreffen, wie z. B. die Gesundheit und Sicherheit der Konsument*innen. Trotz der theoretischen Anerkennung des Prinzips ist die praktische Umsetzung der Transparenz nach wie vor mangelhaft.

Sie haben also eine solche Vereinbarung abgelehnt, um ein soziales Anliegen zu vertreten?

Viele Leute haben Druck auf mich ausgeübt, damit ich eine Vereinbarung mit Nestlé unterzeichne und einen Schlussstrich unter die Angelegenheit ziehe. Ich lehnte eine solche Vereinbarung ab, da sie nicht meiner Lebensphilosophie, meinen Grundsätzen und Werten entsprach, für die ich mich während meiner gesamten Karriere in der öffentlichen Gesundheit eingesetzt habe. Ich konnte nicht plötzlich meine Überzeugungen unter dem Druck von Nestlé oder sogar meinem persönlichen Umfeld verleugnen. Ausserdem hätte eine solche Vereinbarung mich meiner Redefreiheit beraubt und ich wäre nicht mehr in der Lage gewesen, meine Erfahrungen mit der Gesellschaft zu teilen. Die heutige Situation zeigt mir, dass ich Recht hatte. Sehen Sie, im Iran, während der revolutionären Bewegung mit dem Slogan «Frauen, Leben, Freiheit», ist die Jugend bereit, für ein bisschen mehr Freiheit zu sterben. In meinem Fall wurde Druck auf mich ausgeübt, damit ich meine Redefreiheit verkaufe.

Warum haben Sie die Ihnen angebotene interne Versetzung nicht angenommen, obwohl Sie weiterhin eine gute Bezahlung erhalten hätten?

Das Angebot wäre ein Versetzen auf ein Abstellgleis gewesen, obwohl die Stelle angemessen bezahlt gewesen wäre. Vor Gericht bezeichnete der ehemalige Head of Operations von Nestlé, Herr José Lopez, den Posten als «undankbar». Zuerst lehnte ich ab, akzeptierte aber dann trotzdem unter einer einzigen Bedingung: Nestlé solle die Abteilung für Lebensmittelsicherheit auditieren. Ohne ein Prüfverfahren meiner Abteilung, das die Missstände aufzeigte, wollte ich nicht im Unternehmen bleiben.

Warum hat sich Nestlé geweigert, das von Ihnen geforderte Audit durchzuführen?

Ich weiss nicht, das ist eine Frage, die Nestlé beantworten muss. Ich denke, die Prüfung hätte eine Reihe von Versäumnissen und Verstössen aufgedeckt, die Nestlé verschleiern wollte. Sie hätte zum Beispiel aufgezeigt, wie und auf welcher Grundlage der Direktor in seine Position berufen und durch die Hierarchie geschützt wurde, von dem das Mobbing gegen mich ausging. Sie hätte den Mangel an Personal, Nachlässigkeit, möglichen Betrug oder weitere Verstösse beim Management der Nahrungsmittelsicherheit aufgedeckt.

Worin genau bestand das Mobbing gegen Sie?

Ich erlebte drei verschiedene Arten von Belästigungen. Einerseits gab es Handlungen, die direkt gegen meine Person gerichtet waren. Darunter fielen z. B. Demütigung, Herabsetzung, Ausgrenzung, Zurückhalten von Informationen, ebenso wie Zwietracht Säen unter meinen Arbeitskolleg*innen und Diskreditierung meiner Person. Diese Handlungen hatten Auswirkungen auf meine Arbeit. Andererseits wurde ich aber auch schikaniert, indem meine Arbeit gezielt untergraben wurde. Es wurden zum Beispiel meine Anweisungen blockiert, mir meine Projekte weggenommen und mein Team aufgelöst, die von mir eingeführten Massnahmen zur Verbesserung des Risikomanagements sabotiert oder die Fortsetzung meiner Arbeit verweigert.

Hinzu kam das Mobbing durch das Management, das meine Warnungen ignorierte und mich damit diskreditierte oder das – wie bereits erwähnt - Strafversetzungen anordnete und Scheinuntersuchungen durchführte. Als ich schliesslich um ein Gespräch mit dem ehemaligen CEO von Nestlé – Herr Paul Bulcke – bat, um ihn über die Situation zu informieren, entliess er mich.

Das Mobbing ging auch nach meiner Entlassung weiter, und zwar – wie bereits erwähnt – durch Scheinprozesse, Lügen und Erniedrigungen vor Gericht.

Wie geht es Ihnen heute?

Meine Gefühle sind gemischt. Einerseits bin ich sehr glücklich, dass das Zivilberufungsgericht des Kantons Waadt das Mobbing trotz der von Nestlé eingebrachten Manipulationen und Unwahrheiten anerkannt hat. Ich begrüsse auch die Klarsicht des Gerichtes in dem Sinne, dass es diesen mächtigen Konzern verurteilt hat, eine Premiere in der Schweiz. Auf der anderen Seite wurden mein Leben und meine Karriere zerstört, meine Familienmitglieder und sozialen Beziehungen beeinträchtigt; all dies kann nicht wieder gut gemacht werden. Kein Geldbetrag wird ausreichen, um mir die 17 verlorenen Lebensjahre zurückzugeben, in denen ich kämpfen und leiden musste, um die eigentlich unbestreitbare Wahrheit ans Licht zu bringen. Ich werde die Auswirkungen dieses Kampfes für den Rest meines Lebens spüren.

Heute, nach zwölf Jahren juristischer Kämpfe, anerkennt Nestlé die vorgefallenen Belästigungen. Nestlé hätte nur eine angemessene Untersuchung anordnen müssen und dieser langwierige Prozess, der mein Leben vergiftet hat, hätte vermieden werden können. Ist ein solches Verhalten eines verantwortungsbewussten Unternehmens würdig?

Was waren die wichtigsten Auswirkungen dieses Prozesses auf Ihr Leben?

Die Auswirkungen, die der Rechtsstreit auf meine Familie hatte, treffen mich am meisten. Ich leide noch heute darunter.

Abgesehen davon, dass meine Karriere zerstört sowie meine Gesundheit geschädigt wurde und ich meinen beruflichen, sozialen und finanziellen Status verloren habe, lebte ich während 17 Jahren mit Schmerzen: Tag für Tag habe ich Gefühle wie Wut, Ekel, Angst, Traurigkeit, Enttäuschung und Unverständnis durchlebt. Ich war so schockiert und traumatisiert, dass ich meinen Beruf nicht mehr ausüben konnte. Das mangelhafte Management der Lebensmittelsicherheit bei Nestlé und das Schweigen meiner Kolleg*innen angesichts der Mängel, die ich feststellte, haben mich mehr vom Berufsalltag abgeschreckt als das Mobbing selber. Man darf nicht vergessen, dass ich als Direktorin für Lebensmittelsicherheit die Verantwortung für das Leben der Verbraucher*innen hatte. Die Mängel, die ich feststellte, und die Behinderungen meiner Aufgaben, die ich erlebte, bereiteten mir grosse Sorgen. Aufgrund dieser Tatsachen musste ich jederzeit einen Zwischenfall befürchten.

Im Laufe der Zeit bemerkte ich, wie mein Leben zusammenbrach, wie ich jegliche Lebensfreude verlor. Ich sah, wie gleichgültig die Behörden, die Zivilgesellschaft und die Fachleute für Ernährungssicherheit auf die von mir angesprochenen Probleme reagierten. Diese fehlende Reaktion führte dazu, dass ich meinen Glauben an die Gesellschaft und mein Vertrauen in andere Menschen verlor. Alles erschien mir absurd. Auch meine sozialen Beziehungen verschlechterten sich und einige meiner Freunde zogen sich zurück.

Das Gericht hat die Angeklagten des Mobbings schuldig gesprochen. Wie hat es sich zu Fragen der Lebensmittelsicherheit positioniert? In den Medien behauptet Nestlé, dass es in diesem Fall nicht um die Frage der Lebensmittelsicherheit gehe.

Obwohl das Gericht Fragen im Bereich der Lebensmittelsicherheit aufwarf und die Richter*innen sogar verblüfft über die Antworten der Nestlé-Manager*innen waren, nahm es nicht im Detail zu den vorgebrachten Fakten Stellung. Das Zivilberufungsgericht bestätigte jedoch, dass Nestlé der von mir geforderten internen Prüfung nicht nachgekommen war, einer Korrekturmassnahme, die im Falle einer eingegangenen Warnung angewendet werden muss. Dies ist meiner Meinung nach einer der grössten Verstösse, die ein Unternehmen bei der Verwaltung der Sicherheit von Produkten und Dienstleistungen und der Behandlung von Warnmeldungen begehen kann.

Die Erklärung von Nestlé stellt eine falsche und besorgniserregende Sicht auf das Management der Lebensmittelsicherheit dar. Im Gegensatz zu den Behauptungen von Nestlé muss ich klarstellen, dass meine Entlassung auf meine Meinungsverschiedenheit mit der Geschäftsleitung über das Management der Lebensmittelsicherheit zurückzuführen war. Obwohl es beim Gerichtsverfahren um Arbeitsrecht ging, war die intensive und langfristige Schikanierung, der ich ausgesetzt war, sehr wohl eine Vergeltungsmassnahme für meine interne Meldung über das Lebensmittelsicherheitsmanagement. Wie gesagt war einer der Gründe, warum ich keine aussergerichtliche Einigung mit Nestlé erzielen konnte, dass ich im Falle einer solchen Einigung weiterhin über das Management der Lebensmittelsicherheit schweigen hätte müssen.

Welche allgemeinen Folgen hat also ein solches Mobbing der Verantwortlichen für die Lebensmittelsicherheit für die Gesellschaft?

Neben der Blockierung und Sabotage meiner Arbeit hatte das Qualitätsmanagement auch mit internen Managementproblemen zu kämpfen, wie z. B. mangelnde Kommunikation oder falschen Anweisungen durch Führungskräfte. So kam es zu schweren Zwischenfällen: Nestlé war unter anderem in den Melaminvorfall in China verwickelt, bei dem 300 000 Menschen vergiftet wurden, sowie in die Fälle von enterohämorrhagischer Lebensmittelvergiftung durch Escherichia coli in den USA, die durch Nestlé-Kekse verursacht wurden und in 77 Fällen zu schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen führten. Die Sabotage meiner Arbeit hatte auch langfristige Auswirkungen. Beispielsweise verringerte sie Präventionsmöglichkeiten, was zur Nestlé-Tragödie im Buitoni-Pizza-Fall beitrug, bei den Kinder starben und weitere Opfer irreversible Schäden davontrugen. Die Nestlé-Führung missachteten die Warnungen der Angestellten im Zusammenhang mit der Buitoni-Pizza-Affäre mit der gleichen Verachtung, die mir entgegengebracht worden war.

Auf Mitarbeitende ausgeübter Druck und das Mobbing an sich in Bereichen wie z. B. dem Sicherheitsmanagement für Produkte und Dienstleistungen stellen bereits per se eine Verletzung der Sicherheitsbestimmungen dar. Dies hat mehrere Gründe:

So schaffen solche Handlungen Lücken im System, da Mitarbeitende nicht mehr in der Lage sind, ihre Arbeit korrekt zu erledigen und Fehler machen. Kurz- oder langfristig kann dies zu Zwischenfällen führen. Weiter führt das Mobbing an Mitarbeiter*innen zu einem Klima der Angst im Arbeitsumfeld. Infolgedessen werden Mitarbeiter*innen davon abgehalten, sich zu äussern und auf potenzielle Probleme hinzuweisen. Somit ist Mobbing auch ein Verstoss gegen das Warnsystem, was in vielen Ländern gesetzlich geregelt ist.

Wenn Belästigung dazu führt, dass Mitarbeitende des Sicherheitsmanagements in der Ausführung ihrer Tätigkeiten behindert werden, hat dies direkte Auswirkungen auf die Sicherheit. Beispielsweise hat das Blockieren meiner Anweisungen und das Sabotieren von Massnahmen, die ich ergriffen habe, um den Fabriken beim Risikomanagement zu helfen, zu den von mir erwähnten Vorfällen beigetragen.

Ein Klima der Angst zeigt sich in der Unterdrückung der Meinungen der Mitarbeiter*innen unter Androhung von Versetzung, Belästigung oder Entlassung, in der Verweigerung des Auseinandersetzens mit Beschwerden, in Entlassungen aufgrund anderer Meinung, in Nötigungen und Verletzungen interner Richtlinien. All diese Faktoren tragen zu einem sicherheitsgefährdenden Umfeld bei. Allein die Tatsache, dass man einen skrupellosen Manager, der heute gerichtlich der Belästigung für schuldig befunden wurde, im Amt belässt und mich entlässt, sagt alles über die Unternehmenskultur und Ethik von Nestlé aus. Diese gesammelten Erfahrungen im Zusammenhang mit all den Vorfällen zeigen, dass eine negative Organisationskultur Sicherheitsvorfälle oder andere Arten von Verstössen begünstigt.

Was bedeutet dieses Urteil für Menschen, die sich in einer ähnlichen Situation wie Sie befinden?

Dieses Urteil gibt den Opfern und Whistleblower*innen Hoffnung. Es zeigt ihnen, dass es Richter*innen gibt, die sich mit dem Thema Mobbing auseinandersetzen und den Mut haben, ein fehlbares Unternehmen zu verurteilen, egal wie mächtig es auch ist. Darüber hinaus kann das Urteil Arbeitgeber*innen dazu veranlassen, wachsamer zu sein und Beschwerden über Mobbing ernsthafter zu behandeln.

Ich hoffe auch, dass das Urteil die Gesellschaft und Menschenrechtsorganisationen wie die Ihre dazu ermutigen wird, über das Thema Mobbing zu reflektieren und daran zu arbeiten, dass wir in der Schweiz ein verbindlicheres Gesetz erhalten. Die heutige Situation ist für die Opfer alles andere als ideal. Ein Gerichtsverfahren ist sehr kostspielig und nicht für alle Arbeitnehmer*innen finanzierbar. Das Verfahren kann sich über mehrere Jahre erstrecken, und nur wenige können ihre Familie über einen so langen Zeitraum mobilisieren. Hinzu kommen die vielen Schwierigkeiten und Stolpersteine, die im Laufe des Gerichtsverfahrens auftreten. Selbst wenn das Opfer den Prozess gewinnt, verliert es in vielerlei Hinsicht, u.a. weil die Gerichtskosten und weitere Schäden nicht in der Höhe der tatsächlichen Kosten zurückerstattet werden. In der Schweiz wird Mobbing nicht von Gesetzes wegen geahndet. Deshalb existieren auch keine wirksamen Massnahmen zur Bekämpfung von Belästigung und Mobbing gegenüber Arbeitnehmer*innen und Whistleblower*innen.

Mir ist bewusst, dass ich Glück hatte, dass sich Richter*innen mit meinem Fall befassten, die für diese Art von Problemen empfänglich waren. Ich stelle fest, dass nach wie vor viele Menschen in ähnlichen Situationen keine Gerechtigkeit erfahren, sei es aufgrund eines Mangels an Beweisen, mangels (finanzieller) Mittel oder aufgrund der Haltung der Richter*innen. Die heutigen Gegebenheiten führen dazu, dass die Justiz willkürliche Entscheide trifft. Meiner Meinung nach sollte das Justizsystem unter Berücksichtigung der Erfahrungen von Opfern einer Untersuchung unterzogen werden, damit die Faktoren, welche das Justizsystem teilweise ungerecht oder für Bürger*innen unzugänglich machen, verbessert werden können.

2019 erhielten Sie den GUE/NGL-Preis für Journalist*innen, Whistleblower*innen und Verteidiger*innen des Rechts auf Information, der zu Ehren von Daphne Caruana Galizia im Europäischen Parlament verliehen wurde. Was war das Schwierigste an Ihrer Rolle als Whistleblowerin?

Am schwierigsten war die Konfrontation mit der Gleichgültigkeit und Verschwiegenheit, die in der Gesellschaft rund um ein so wichtiges und für die öffentliche Gesundheit relevantes Thema wie die Lebensmittelsicherheit entstanden ist. Die mangelnde Solidarität einer Mehrheit meiner Kolleg*innen – sogenannte Fachleute für Lebensmittelsicherheit oder öffentliche Gesundheit – sowie die Weigerung der Behörden, meine Bedenken zu prüfen und zu den Praktiken von Nestlé Stellung zu beziehen, waren besonders schwer zu ertragen. Letztendlich hatte ich nach Jahren der Lügen und Manipulationen das starke Verlangen, dass die Wahrheit endlich für alle hörbar ausgesprochen wird. Indem ich meine Erfahrungen mit der Welt teilte, erhoffte ich mir, dass daraus Lehren für die Zukunft gezogen werden. Dafür nahm ich auch in Kauf, dass mir ein Gerichtsverfahren wegen Verletzung des Berufsgeheimnisses drohte. Die Mehrheit der Mainstream-Medien ignorierte oder zensierte meine Aussage. Abgesehen von einigen Ausnahmen, wie meinem Interview mit Euronews, wurde meine Geschichte banalisiert oder ohne Analyse wiedergegeben. Manchmal betrieben die Medien sogar eher Desinformation als Information, wenn sie nämlich z. B. eine Mischung aus Wahrheiten und Unwahrheiten präsentierten und gleichzeitig wichtige Fakten wegliessen.

Ist es nicht seltsam, dass in einem Fall, in dem einer der grössten Lebensmittelkonzerne der Welt verwickelt ist, die besten Berichte über meine Geschichte in einer Frauenzeitschrift wie Annabelle, in La Cité, einer Zeitung mit geringer Auflage, Kulturmedien wie France Culture oder in einem Theaterstück mit dem Titel Whistleblowerin/elektra zu finden sind?

Hätte Ihnen ein Gesetz zum Schutz von Whistleblower*innen geholfen?

In der Schweiz gibt es kein Gesetz zum Schutz von Whistleblower*innen und die Vergeltungsmassnahmen, denen diese Personen ausgesetzt sind, werden nicht geahndet. Die betroffenen Personen müssen zuerst gesundheitlich so stark angeschlagen sein, dass sie nicht mehr arbeiten können. Erst dann erklärt sich die Justiz bereit, die Opfer zu entschädigen. Faktisch gibt es in der Schweiz somit keinen Schutz für Whistleblower*innen oder Mobbingopfer. Doch selbst in Ländern, in denen es gesetzliche Bestimmungen gibt, werden diese nicht immer durchgesetzt. Darüber hinaus befassen sich diese Gesetze hauptsächlich mit dem Schutz von Whistleblower*innen und legen nicht klar fest, welche rechtlichen Massnahmen ergriffen werden müssen, wenn ein Unternehmen oder eine Behörde nicht auf die Warnungen reagiert. Genau hier liegt das Kernproblem: Warum sollte ein*e Whistleblower*in sein/ihr Leben riskieren, wenn das Unternehmen oder die Behörden sich ungestraft weigern können, gemeldete Vorfälle zu prüfen und Stellung zu beziehen?

Ist der Kampf nun vorbei?

Das Gerichtsverfahren wegen Mobbing ist abgeschlossen, das Grundproblem ist damit jedoch nicht gelöst. Dies vor allem auch deshalb, weil die Nestlé-Führung laut ihren Medienmitteilungen immer noch nicht anerkennt, dass mit dem Mobbing gegenüber Beauftragten für Lebensmittelsicherheit und mit der Weigerung, auf deren Warnungen zu reagieren, gegen die Lebensmittelsicherheit verstossen wird. Ich bin nach wie vor von der Reaktion der Gesellschaft enttäuscht. Die Medien berichteten über das Urteil als Epilog eines Gerichtsverfahrens, anstatt eine Debatte über die Gründe und Folgen eines solchen Falles für die Gesellschaft zu eröffnen. Die Mehrheit der Fachleute für Lebensmittelsicherheit und öffentliche Gesundheit wäscht ihre Hände in Unschuld, anstatt daraus zu lernen und unser Managementsystem für Produkt- und Dienstleistungssicherheit weiterzuentwickeln.

Mir ist bewusst, dass eine Person allein nicht alles ändern kann. Wie ein persisches Sprichwort sagt: «Der Narr öffnet die Tür und die Weisen folgen». Ich hoffe also, dass es heute Menschen gibt, die durch meinen Prozess aufgerüttelt wurden und die den Wert dieses Kampfes erkennen und mir helfen, unser System weiterzuentwickeln.

Mit der Begleitung von strategischen Prozessen wie jenem von Yasmine Motarjemi streben wir an, Lücken im Menschenrechtsschutz zu schliessen. Unterstützen Sie uns dabei mit einer Spende! Herzlichen Dank!

kontakt

Marianne Aeberhard
Leiterin Projekt Zugang zum Recht / Geschäftsleiterin

marianne.aeberhard@humanrights.ch
031 302 01 61
Bürozeiten: Mo/Di/Do/Fr

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