humanrights.ch Logo Icon

Mangelnder Rechtsschutz für Jenische und Sinti*zze

16.02.2023

Jenische und Sinti*zze sind in der Schweiz zwar als nationale Minderheit anerkannt, doch leider fehlen ihnen wirksame Mittel, um ihre Interessen rechtlich durchzusetzen. Ein strategischer Prozess an den UNO-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung soll dies ändern.

Bund, Kantone und Gemeinden sind aus grundrechtlicher Sicht verpflichtet, Rahmenbedingungen für Jenische und Sinti*zze zu schaffen, die ihnen zu genügend Stand- und Durchgangsplätze verhelfen. Bei Durchgangsplätzen handelt es sich um Gelände, das vor allem für die sommerliche Reisetätigkeit genutzt wird. Nach wie vor sind in der Schweiz bei weitem nicht genügend Plätze vorhanden, so dass viele Jenische und Sinti*zze ihre fahrende Lebensweise nicht pflegen und folglich meist keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können. Der Bund will dies mit finanziellen Beiträgen an den Bau und die Sanierung von Halteplätzen ändern.

In St. Gallen gibt es seit den achtziger Jahren Bemühungen für traditionell reisende Familien von Jenischen und Sinti*zze; der Kanton leistet seit Langem konzeptuelle und raumplanerische Arbeit zur Schaffung von Plätzen. Bisher scheiterte es, trotz jeweils unzähligen Gesprächen, schlussendlich am Willen der Gemeinden. So gibt es nach wie vor keinen Durchgangsplatz im Kanton St. Gallen.

Die Stimmenden der Gemeinde Thal in der Nähe des Bodensees zum Beispiel lehnten im Mai 2014 einen Teilzonenplan ab, der einen Durchgangsplatz auf dem seit 2007 zur Diskussion stehenden Grundstück «Fuchsloch» vorsah. Seit Januar 2017 sieht der Richtplan des Kantons St. Gallen die Errichtung eines langfristigen Durchgangsplatzes für Jenische und Sinti*zze im «Fuchsloch» zwar vor. Der Kanton nahm Gespräche mit der Gemeinde auf und es wurde immerhin vereinbart, dass als erster Schritt ein zeitlich befristeter Durchgangsplatz errichtet werden sollte. Im Mai 2019 beschloss der Gemeinderat jedoch, «auf die Weiterverfolgung des Projektes» zu verzichten. Damit sind in der Gemeinde Thal alle Bestrebungen für einen Durchgangsplatz vernichtet.

Der Beschluss markiert das Ende eines langjährigen Prozesses und schickt die Hoffnung auf einen Durchgangsplatz in Thal bachab. Das will die Dachorganisation der Schweizerischen Jenischen und Sinti*zze, die Radgenossenschaft der Landstrasse, nicht akzeptieren. Im Namen ihrer Mitglieder reichte sie beim Baudepartement des Kantons Rekurs gegen diesen Beschluss ein. Dieses trat auf den Rekurs nicht ein und begründete den Entscheid im April 2020 so: Der Beschluss des Gemeinderates sei kein taugliches Anfechtungsobjekt und die Radgenossenschaft nicht beschwerdelegitimiert.
Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen stand dann aber der Radgenossenschaft eine Beschwerdeberechtigung zu, bestätigte jedoch die Auffassung, wonach der Beschluss des Gemeinderates Thal nicht angefochten werden könne, weil kein Rechtsweg bestehe.

Die Radgenossenschaft gelangte in der Folge ans Bundesgericht, berief sich auf die Rechtsweggarantie nach Art. 29a der Bundesverfassung und Art. 6 des Internationalen Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD).

Das Bundesgericht wies die Beschwerde mit Urteil vom 18. November 2022 mit der Begründung ab, die Rechtsweggarantie sei nicht verletzt, insbesondere in Bezug auf die Schaffung eines provisorischen Durchgangsplatzes.
Das Problem liegt also darin, dass sich die von diesen Entscheiden betroffenen Jenischen und Sinti*zze auf dem Rechtsweg nicht wehren können. Sie können sich zwar in politischen Gesprächen auf Bundes- Kantons- oder Gemeindeebene einbringen, haben dann aber keine Rechtsmittel, wenn ein geplanter Platz wegen eines behördlichen Entscheides doch nicht realisiert wird. Dabei geht es in einem ersten Schritt um die Schaffung eines provisorischen Areals, das dann mit planungsrechtlichen Massnahmen in ein langfristiges Projekt überführt werden soll. Auch ein von der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) in Auftrag gegebenes Gutachten zeigt, dass das Raumplanungsrecht keine individuellen Rechtsmittel für Betroffene vorsieht.

Der Schweizer Gesetzgeber hat es versäumt, den besonderen Bedürfnissen der Jenischen und Sinti*zze gerecht zu werden. Er hat es verpasst, ihnen wirksame Rechtsmittel an die Hand zu geben, um gegen Massnahmen, die ihre Menschenrechte und Grundfreiheiten verletzen, vorzugehen, wie es etwa Art. 6 CERD verlangt.

Aus diesem Grund beschloss die Radgenossenschaft der Landstrasse diesen fehlenden Rechtsschutz mittels einer Individualbeschwerde beim UNO-Ausschuss gegen rassistische Diskriminierung geltend zu machen. Dieser Beschwerdeweg wurde gewählt, weil es um jahrelange behördliche Verweigerungen – nicht nur durch die Gemeinde Thal - gegenüber einer bestimmten Gruppe geht, die konkret durch das CERD geschützt ist und die Schweiz dazu aufgefordert werden soll, wirksame Rechtsmittel zu schaffen.

Ende Dezember 2022 wurde die Beschwerde (sog. «communication») eingereicht. Bis zu einem Entscheid des UNO-Ausschusses kann es mehrere Jahre dauern. Die Anlaufstelle strategische Prozessführung von humanrights.ch unterstützt diese Beschwerde.

kontakt

Marianne Aeberhard
Leiterin Projekt Zugang zum Recht / Geschäftsleiterin

marianne.aeberhard@humanrights.ch
031 302 01 61
Bürozeiten: Mo/Di/Do/Fr

kontakt

Marianne Aeberhard
Leiterin Projekt Zugang zum Recht / Geschäftsleiterin

marianne.aeberhard@humanrights.ch
031 302 01 61
Bürozeiten: Mo/Di/Do/Fr