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Die prekäre Situation von Kindern in Asylunterkünften

27.06.2024

Die Verhältnisse in Asylunterkünften sowie die häufigen Verlegungen an neue Orte sind für Kinder von asylsuchenden Familien sehr belastend. Ihre Rechte und Bedürfnisse werden oft nicht berücksichtigt, wie die Geschichte von Lily und ihren Geschwistern exemplarisch zeigt.

Als Lily* (Name geändert) 5 Jahre alt war, flüchteten ihre Eltern mit ihr und ihrer dreijährigen Schwester aus dem Kosovo in die Schweiz. Die Familie gehörte der bosnischen Minderheit an. Lilys Vater war zunehmend Anfeindungen und gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt gewesen, da er Politiker in der Partei war, welche sich für die Belange der Minderheit einsetzte.

Im November 2014 stellte die Familie in der Schweiz ein Asylgesuch und war während eines Monats im Bundesasylzentrum in Kreuzlingen untergebracht. Anschliessend wurde die Familie in die Asylunterkunft in Romanshorn verlegt, wo sie 10 Monate lang in einem schmutzigen Zimmer wohnte. Dort besuchte Lily den Kindergarten. Während dieser Zeit wurde Lilys kleiner Bruder geboren. Im Oktober 2015 wurde die Familie der Gemeinde Bottighofen zugeteilt und konnte in eine eigene Wohnung ziehen. Hier hatte die Familie genügend Platz und fühlte sich wohl. Lily ging in Bottighofen in die Primarschule.

Bereits ein Monat nach der Einreichung wurde das Asylgesuch der Familie abgelehnt, da gemäss SEM keine echte Gefährdungslage erkennbar wäre. Die Familie reichte sogleich eine Beschwerde ein, welche erst zwei Jahre später abgelehnt wurde. Zwischen 2014 und 2020 – also während sieben Jahren – stellte die Familie mehrere Wiedererwägungsgesuche, welche alle abgelehnt wurden.

Im Sommer 2016 musste Lilys Familie ihre Wohnung verlassen und wurde im Durchgangsheim der Peregrina-Stiftung in Frauenfeld untergebracht. Dort wurde damals eine kantonale Nothilfestrategie verfolgt, deren Ziel es war, ausreisepflichtige Asylsuchende durch eine kontinuierliche Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen abzuschrecken. Die Strategie wurde öffentlich kritisiert. Lilys Familie lebte im Heim unter furchtbaren Bedingungen, unter denen die Kinder besonders litten. Die fünfköpfige Familie teilte sich ein Zimmer, in dem sie auch kochte, da die Küche sehr schmutzig und unordentlich war. Ein Jahr lang litt die Familie unter Bettwanzen, Lily und ihre Geschwister waren mit Stichen übersäht. Die Verantwortlichen wollte aus Kostengründen nichts gegen die Bettwanzen unternehmen.

Lily musste die Schule in Bottighofen aufgrund der Verlegung nach einem Jahr verlassen und besuchte anschliessend die Schule in Frauenfeld. Auch ihre jüngere Schwester war mittlerweile eingeschult. Die Hausaufgaben mussten sie auf dem Boden des Familienzimmers machen. Im Wohnzimmer des Heims hielten sich meistens junge Männer auf, welche die Mehrheit der Asylsuchenden in der Unterkunft ausmachten. Da die Männer sich im Aufenthaltsraum oft nur mit einem Handtuch bekleidet bewegten, laut Musik hörten und Videos mit unangemessenem Inhalt abspielten, wollten Lily und ihre Geschwister nicht im Wohnzimmer lernen oder spielen.

Die bedrängte Wohnsituation belastete Lily sehr und sie zeigte diverse körperliche und psychische Symptome wie Albträume, Panikattacken und Verzweiflung, was in einem Gutachten ihrer Psychologin festgehalten ist. Auch Lilys Mutter leidet seit 2016 unter psychischen Problemen und zeigt ein erhöhtes Suizidrisiko.

Obwohl diese Tatsachen dem kantonalen Migrationsamt bekannt waren, lehnte es 2021 das Härtefallgesuch der Familie ab, wodurch diese zur Ausreise verpflichtet wurde. Das Amt räumte zwar ein, dass eine Rückführung in den Kosovo zu einer Verschlechterung des Gesundheitszustandes von Lilys Mutter führen könnte. Sie könne jedoch auch im Kosovo behandelt werden. Auf den schlechten psychischen Gesundheitszustand von Lily wurde im Entscheid des Migrationsamtes nicht eingegangen.

Die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht kritisiert dies sowie die allgemein mangelnde Berücksichtigung des Kindeswohl (Art. 3 Kinderrechtskonvention). Denn die Kinder haben fast ihr gesamtes Leben in der Schweiz verbracht, sprechen fliessend Hoch- und Schweizerdeutsch und sind gut integriert. Besonders Lily verfügt über einen festen Freundeskreis. Es ist entsprechend unsicher, ob die Kinder sich im Kosovo gut integrieren würden. Dieser Aspekt sei vom Migrationsamt zu wenig gut untersucht worden, kritisiert die Beobachtungsstelle.

Auch der UN-Kinderrechtsausschuss, welcher die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention überprüft, fordert in seinen Schlussbemerkungen des fünften und sechsten Staatenberichts der Schweiz explizit, die Rechte von Kindern im Asylverfahren einzuhalten. Das Kindeswohl sei bei «sämtlichen Entscheiden betreffend Verlegung, Inhaftierung oder Ausschaffung von asylsuchenden Kindern» vorrangig zu berücksichtigen.

Im Fall von Lily und ihrer Familie begleiten wir keinen strategischen Gerichtsprozess. Denn es ist einer von vielen Fällen, in denen es darum geht, überhaupt einen Zugang zur strategischen Prozessführung und damit einen Zugang zum Recht zu schaffen. Insbesondere im Bereich Asyl und Migration bleiben Menschenrechtsverletzungen im Dunkeln, weil die Voraussetzungen für eine Prozessführung nicht gegeben sind. Deswegen dokumentiert humanrights.ch auch solche Fälle, um Präzendenzfälle in einem ersten Schritt sichtbar zu machen. Es geht darum, systematische und strukturell bedingte Menschenrechtsverletzungen ans Licht zu bringen und in einem Netzwerk von Fachpersonen zu diskutieren, welche Strategien sich am besten eignen, um in diesen Fällen Verbesserungen im Menschenrechtschutz zu erreichen.

kontakt

Marianne Aeberhard
Leiterin Projekt Zugang zum Recht / Geschäftsleiterin

marianne.aeberhard@humanrights.ch
031 302 01 61
Bürozeiten: Mo/Di/Do/Fr

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