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Schutzmassnahmen in der Corona-Pandemie: Zertifikatspflicht Ja – Kostenpflicht Nein

Seit mehr als zwei Jahren belastet die Corona-Pandemie Politik und Gesellschaft. Das Virus kostete bis heute unzählige Menschen das Leben, stürzte eine Vielzahl von Personen in finanzielle Schwierigkeiten und löste tiefgreifende gesellschaftliche Konflikte aus. Vorstellungen von Solidarität und persönlicher Freiheit werden immer wieder gegeneinander ausgespielt. Aus grund- und menschenrechtlicher Perspektive sind wir jedoch mit einer komplexen Situation konfrontiert: Anstelle von «richtig» und «falsch» sind eine Vielzahl unterschiedlicher Interessen immer wieder neu gegeneinander abzuwägen.

Stellungnahme von humanrights.ch

Im Rahmen seiner nationalen Teststrategie hat der Bundesrat am 25. August 2021 festgelegt, dass Personen, die ein Covid-Zertifikat erhalten wollen, die dazu notwendigen Tests ab 1. Oktober 2021 selbst bezahlen müssen. Am 8. September 2021 beschloss der Bundesrat, per 13. September 2021 die Covid-Zertifikatspflicht auszuweiten. Sie gilt nun für Personen ab 16 Jahren «im Innern von Restaurants, von Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie an Veranstaltungen in Innenräumen». Am 24. September 2021 hat der Bundesrat schliesslich entschieden, die Kosten für die Antigen-Schnelltest noch bis 10. Oktober zu übernehmen. Er schlägt zudem vor, dass Personen, die bereits eine Impfdosis erhalten haben, sich noch bis November 2021 gratis testen lassen können.

Im Folgenden bezieht humanrights.ch Stellung zur Ausweitung der Covid-Zertifikatspflicht mit der Pflicht zur Selbstzahlung der dafür notwendigen Tests für Ungeimpfte und nicht genesene Personen ab 10. Oktober 2021.

Eine Vielzahl von Grundrechten betroffen

Von der Corona-Pandemie und den damit einhergehenden staatlichen Schutzmassnahmen sind unterschiedliche Grund- und Menschenrechte betroffen. So etwa die Grundrechte auf körperliche Unversehrtheit, Bewegungsfreiheit, Wirtschaftsfreiheit und Religions- sowie Versammlungsfreiheit.

Das Recht auf körperliche Unversehrtheit (Art. 10 BV) und die öffentliche Gesundheit geraten aufgrund steigender Coronainfektionen und überfüllter Intensivstationen unter Druck. Je ungebremster sich das Virus verbreiten kann, desto mehr Menschen sind von schweren Verläufen betroffen und geraten in Lebensgefahr. Davon bedroht sind insbesondere Personen, die sich nicht impfen können (z.B. Kinder und Menschen mit Immunschwäche) oder Menschen, die durch ihren Beruf einem ungleich höheren Übertragungsrisiko ausgesetzt sind (z.B. Detailhandel). Die aufgrund von Covid-19 benötigten Plätze in den Intensivstationen bringen die Spitäler an ihre Grenzen: So müssen etwa wichtige Krebsoperationen aufgeschoben werden, was für die Betroffenen eine enorme Belastung darstellt und ihre Grundrechte tangiert.

Insbesondere in der ersten und zweiten Welle wurden weiter die Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 15 BV) sowie die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV) durch strenge (kantonale) Schutzmassnahmen massiv eingeschränkt. So waren etwa im Kanton Bern bis Ende Mai 2021 nur fünfzehn Personen an Demonstrationen zugelassen. Da die Versammlungsfreiheit für die Wahrung aller anderen Menschenrechte von grosser Bedeutung ist, werden auch höhere Anforderungen an deren Einschränkungen gestellt. In diesem Sinne hat das Bundesgericht den Kanton Bern kürzlich gerügt: Er habe mit der 15-Personen-Regelung gegen die Versammlungsfreiheit verstossen.

Schliesslich berühren die staatlichen Schutzmassnahmen – Ausweitung der Zertifikatspflicht in Kombination mit den kostenpflichtigen Coronatests – Grundrechte wie die Bewegungsfreiheit (Art. 10 BV) und die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV). Wer nicht geimpft, getestet oder genesen ist, kann nicht in Restaurants, Bars oder Cafés einkehren oder eine Veranstaltung besuchen. Obwohl die Ungeimpften ihre Grundrechte mit einem Zertifikat wahren können, wird der finanzielle Aufwand dazu aufgrund der kommenden Testkosten erheblich. Gastrosuisse rechnet für die Betriebe erneut mit massiven Umsatzrückgängen und der Gewerbeverband warnt vor einem Verlust von Arbeitsplätzen.

Keine verfassungsmässige Diskriminierung

Im Zusammenhang mit der ausgeweiteten Zertifikatspflicht wird in den (sozialen) Medien und der öffentlichen Debatte häufig von einer Diskriminierung der ungeimpften Personen gesprochen. Im rechtlichen Sinne liegt zwar eine Ungleichbehandlung innerhalb der oben genannten Grundrechte vor. Diese Grundrechtseingriffe müssen dementsprechend gemäss Artikel 36 Absatz 1–3 der Bundesverfassung eine gesetzliche Grundlage haben, einem eingriffsrechtfertigenden Interesse dienen, verhältnismässig sein und dürfen den Kerngehalt eines Grundrechtes nicht berühren. Jedoch erfüllen die Ungeimpften als Gruppe nicht die Voraussetzungen, um den Schutz des Diskriminierungsverbotes (Art. 8 Abs. 2 BV) auszulösen.

Das Diskriminierungsverbot wird verletzt, wenn eine Person aufgrund von wesentlichen Persönlichkeitsmerkmalen, die sie nicht beeinflussen kann oder deren Entledigung ihr nicht zuzumuten ist, benachteiligt wird. Der Schutz gilt in diesem Zusammenhang insbesondere für Gruppen, welche historisch schlechter gestellt oder politisch ausgegrenzt werden (z.B. Fahrende oder Menschen mit Behinderungen). Da sich Ungeimpfte ihrer Ungleichbehandlung jederzeit mit einem Test oder einer Impfung entledigen können und nicht traditionell schlechter gestellt sind, fallen sie eindeutig nicht in den Schutzbereich des Diskriminierungsverbotes.

Zertifikatspflicht Ja…

Im Fokus der Pandemiebekämpfung gegen das Coronavirus muss der Schutz der öffentlichen Gesundheit und der körperlichen Unversehrtheit – und damit die Reduzierung des Ansteckungsrisikos – stehen. Dazu ist der Staat aufgrund seiner grund- und menschenrechtlichen Schutzpflichten verpflichtet. In Anbetracht der angespannten Situation in den Spitälern ist die Ausweitung der 3G-Zertifikatspflicht – «geimpft, getestet, genesen» – mit Blick auf den kommenden Winter der sicherste und wirksamste Weg, das Interesse der öffentlichen Gesundheit zu wahren. So kann ein erneuter Lockdown mit den einhergehenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Folgen verhindert werden. Zudem ermöglicht die 3G-Regelung die Wiedererlangung der Bewegungsfreiheit und der persönlichen Freiheit in den Innenräumen von Restaurants, Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie an Veranstaltungen. Solange besonders schützenswerte und elementare Lebensbereiche – wie etwa der Besuch in einem Lebensmittelgeschäft oder die Nutzung des öffentlichen Verkehrs – von der Zertifikatspflicht ausgenommen bleiben, lässt sich deren Ausweitung für die Wahrung öffentlicher Interessen durchaus rechtfertigen.

…Kostenpflicht zurzeit Nein

Bei den staatlichen Massnahmen darf es jedoch nicht primär darum gehen, bestimmte Bevölkerungsgruppen politisch unter Druck zu setzen. Das geht über das Ziel der Pandemiebekämpfung hinaus: Die Reduktion des Ansteckungsrisikos lässt sich ebenso herbeiführen, wenn die Antigen-Schnelltests weiterhin unentgeltlich bleiben.

Personen mit weniger finanziellen Ressourcen sind ungleich stärker von den Folgen kostenpflichtiger Tests betroffen. Der PCR-Test kostet ungefähr 184 Franken und der Antigen-Schnelltest circa 54 Franken. Für Menschen in wirtschaftlich und sozial prekären Verhältnissen sind diese Kosten nicht tragbar und über einen längeren Zeitraum auch vom Mittelstand nicht zu stemmen. Die Zertifikatsoption «getestet» würde damit für viele Menschen nicht mehr in Betracht kommen und die bisherige 3G-Regel (geimpft, genesen, getestet) zur 2G-Regel (geimpft, genesen) verkommen. Im Sinne des Verhältnismässigkeitsprinzips sollte die Testmöglichkeit aber als gegenüber der Impfung milderes Mittel weiterhin niederschwellig zur Verfügung stehen.

Dabei ist allerdings zu berücksichtigen: Nicht alle ungeimpften Personen verzichten aus freien Stücken und gut informiert auf eine Impfung. Gewisse Menschen können sich aus medizinischen Gründen nicht impfen lassen. Die Impfbereitschaft ist jedoch auch stark von sozialen Bedingungen beeinflusst. So fehlt es für einige Bevölkerungskreise an ausreichenden und zugänglichen Informationen. Andere können für einen Impftermin nicht von der Arbeit fernbleiben. Dritten fehlen schlicht die Mittel, um zu einem Impfzentrum zu gelangen. Die Informations- und Impfkampagne des Bundes war bis anhin sehr defensiv und hat nicht alle potenziell impfwilligen Menschen erreicht. Es ist zu bezweifeln, ob unterschiedliche – insbesondere marginalisierte – Bevölkerungsgruppen in adäquater Weise Zugang zu Informationen über das Coronavirus und das Zertifikat sowie Aufklärung über die verbreiteten Falschinformationen erhalten haben.

Solange der Zugang zur Impfung nicht nachgewiesen für alle Bevölkerungsgruppen und Regionen niederschwellig ermöglicht ist, wäre die Überwälzung der Testkosten – und damit die Einschränkung verfassungsmässiger Rechte der Bürger*innen – unverhältnismässig und damit verfassungswidrig.

Fehlende gesetzliche Grundlage

Das Vorgehen des Bundesrates wurde vonseiten verschiedener Jurist*innen kritisiert. Markus Schefer, Professor für Staatsrecht an der Universität Basel, stellte die Frage nach einer genügenden gesetzlichen Grundlage in den Raum. In einer Analyse kommt auch Kaspar Gerber, Rechtsexperte an der Universität Zürich, zum Schluss, dass für die Zertifikatspflicht mit kostenpflichtigen Tests weder im Covid-19-Gesetz noch im Epidemiengesetz eine ausreichende gesetzliche Grundlage bestehe.
Gerber ordnet die aktuellen Massnahmen als indirekten Impfzwang ein: «Impfzwang ist nicht nur physischer Zwang, vielmehr umfasst er auch sämtliche Erscheinungsformen verwaltungsrechtlicher Sanktionen, die geeignet sind, die selbstbestimmte (grundrechtlich und epidemiengesetzlich geschützte) Wahlfreiheit des Individuums gegen eine Impfung zu übersteuern – die also beabsichtigen, Druck auf die Adressaten auszuüben, um eine Impfbereitschaft zu «erzwingen». Auch die Nationale Ethikkommission betont in diesem Zusammenhang, dass «eine indirekte Impfpflicht das Prinzip der Wahlfreiheit bezüglich der Impfung untergräbt und damit nicht gerechtfertigt werden kann».

Laut Gerber kann der Bundesrat gemäss Epidemiengesetz Empfehlungen aussprechen (Art. 9 Abs. 3 EpG) oder Impfungen bei gefährdeten Bevölkerungsgruppen, bei besonders exponierten Personen und bei Personen, die bestimmte Tätigkeiten ausüben, für obligatorisch erklären (Art. 6 Abs. 2 lit. d EpG). Das Covid-19-Gesetz biete für den Bundesrat demgegenüber keine Grundlage, in der besonderen Lage direkt oder indirekt ein Impfobligatorium anzuordnen. Der mit der Ausweitung des Covid-19-Zertifikats ausgeübte Impfdruck richte sich jedoch gerade nicht gegen die im Gesetz für ein Impfobligatorium epidemiologisch relevantesten Gruppen. Vielmehr würden unabhängig von ihrem persönlichen Risikoprofil pauschal «gewöhnliche» Bürger*innen ab 16 Jahren einer indirekten Impfpflicht unterworfen.

In diesem Sinne hat jüngst auch die Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit des Nationalrates in einem Schreiben gefordert, dass der Bundesrat die Kosten für die Covid-Tests weiterhin übernehmen soll. Die Tests seien neben der Impfung wichtig, damit «das Gesundheitswesen nicht mit aufwendig zu betreuenden Covid-19-Erkrankungen überlastet wird». Darüber hinaus warnt sie vor Einschränkungen des Rechts auf Bildung, wenn ungeimpfte Student*innen nur noch am Präsenzunterricht teilnehmen können, wenn sie sich die Testkosten leisten können. Ihre Empfehlung bekräftigte die Kommission in einem weiteren Schreiben und konkretisiert, dass der Bund die Kosten für Antigen-Schnelltests so lange übernehmen soll, wie die Zertifikatspflicht in Innenbereichen von Restaurants, Kultur- und Freizeiteinrichtungen sowie an Veranstaltungen in Innenräumen gilt. Die Kommission empfiehlt zudem einstimmig, dass ein Covid-Zertifikat erhalten soll, wer am Arbeitsplatz oder in einer Bildungseinrichtung in einem PCR-Pooltest negativ getestet wurde. Schliesslich wollen neuen Medienberichten zufolge verschiedene Parteien (SVP, SP, Grüne) mit einer Parlamentarischen Initiative in einem Eilverfahren die Beibehaltung der Gratistests durchsetzen.

Die Forderungen von humanrights.ch

  1. Der Zugang zum Zertifikat muss kostenlos bleiben: Damit die Grundrechte von Ungeimpften nicht unnötig eingeschränkt werden, sollten die Antigen-Schnelltests weiterhin gratis und niederschwellig zur Verfügung stehen, mindestens solange Aufklärung und Information nicht die ganze Gesellschaft durchdringen.
  2. Die Aufklärungs- und Informationsarbeit muss intensiviert und verbessert werden: Bund und Kantone müssen zwingend Impf- und Informationskampagnen durchführen, welche gezielt auf unterschiedliche demographische, soziale, religiöse und sprachliche Bevölkerungsgruppen zugeschnitten sind und von geeigneten Botschaftsträger*innen überbracht werden. Nur so kann sichergestellt werden, dass auch marginalisierte Gruppen Zugang zur Information, Aufklärung und der Impfung erhalten.
  3. Arbeitgeber*innen sind zu verpflichten, ihren Mitarbeiter*innen mit Vollzeitstellen während der Arbeitszeit die Wahrnehmung von Impfterminen zu ermöglichen.

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