12.05.2022
Der UNO-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen kritisiert die ungenügende Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention in der Schweiz. In vielen Lebensbereichen werden Menschen mit Behinderungen weiterhin ungenügend vor Diskriminierung geschützt und von der autonomen Teilnahme am öffentlichen Leben ausgeschlossen. Es mangelt an gesetzlichen Grundlagen und umfassenden Umsetzungsstrategien.
Kommentar Caroline Hess-Klein und Julie Tarchini von Inclusion Handicap
Im März 2022 wurde an der 26. Session des UNO-Behindertenrechtsausschusses erstmals die Umsetzung des Internationalen Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen durch die Schweiz überprüft. Die abschliessenden Bemerkungen des UNO-Gremiums sind ernüchternd: Die Schweiz verletzt in vieler Hinsicht die Rechte der 1.8 Millionen Menschen mit Behinderungen. Die von der UNO-Behindertenrechtskonvention geforderte Inklusion wird auf allen Staatsebenen und in der Gesellschaft noch zu wenig gelebt.
Fehlende Gesamtstrategie
Der UNO-Ausschuss kritisiert die Schweiz insbesondere für das Fehlen einer umfassenden Strategie zur Umsetzung der UNO-Behindertenrechtskonvention. Wichtig ist nun, dass Bund und Kantone gemeinsam mit den Behindertenorganisationen einen Aktionsplan aufstellen. Bestehende Gesetze auf allen Staatsebenen sollen systematisch im Lichte der Behindertenrechtskonvention überprüft werden und ihre Umsetzung schliesslich von einer unabhängigen Stelle regelmässig überprüft werden.
Ungenügender Schutz vor Diskriminierung
Der UNO-Ausschuss rügt weiter, dass die Schweiz Menschen mit Behinderungen nur ungenügend vor Diskriminierungen schützt. Dafür muss die Schweiz gemäss Ausschuss umgehend Massnahmen ergreifen. In die Pflicht sind hier sowohl die Gerichte als auch die Gesetzgebenden auf nationaler und kantonaler Ebene.
Mangelhafte Umsetzung in sämtlichen Lebensbereichen
Schliesslich fordert das UNO-Gremium die Schweiz dazu auf mehr Unterstützungsleistungen für selbständiges Wohnen anzubieten und von der Institutionalisierung von Menschen mit Behinderungen wegzukommen.
Im Bildungsbereich bemängelt der Ausschuss, dass die Schweiz keine politische Strategie für den Aufbau eines inklusiven Schulsystems hat. Schweizweit werden knapp die Hälfte der Grundschüler*innen mit verstärktem Unterstützungsbedarf separativ geschult. Beim Zugang zur Bildung auf allen Stufen sehen sich Menschen mit Behinderungen in der Schweiz mit zahlreichen, zum Teil auch schweren Benachteiligungen konfrontiert.
Der Ausschuss ist schliesslich auch besorgt über die Segregation der Menschen mit Behinderungen auf dem «geschützten Arbeitsmarkt». Solange die Arbeitgebenden kaum angepasste Arbeitsstellen schaffen und es an Unterstützungsangeboten fehlt, kann kein inklusiver Arbeitsmarkt entstehen. Der Ausschuss fordert die Schweiz auf, Massnahmen zu ergreifen, um die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen auf dem offenen Arbeitsmarkt zu erhöhen. Es braucht verbindliche Zielvorgaben und Unterstützungsangebote für Arbeitgebende und Betroffene.
Bund und Kantone stehen jetzt in der Pflicht, die Empfehlungen des UNO-Expertengremiums mit der nötigen Ernsthaftigkeit und Geschwindigkeit umzusetzen. Die Behindertenverbände fordern den Bundesrat in einer Petition zudem dazu auf, die Ratifikation des Zusatzprotokolls zur UNO-Behindertenrechtskonvention unverzüglich in die Wege zu leiten. Mit dem Zusatzprotokoll könnten Menschen mit Behinderungen ihre Rechte direkt vor dem UNO-Behindertenrechtsausschuss anhand einer Individualbeschwerde geltend machen, falls ihre Beschwerde durch Schweizer Gerichte letztinstanzlich abgelehnt wurde.
Die Empfehlungen des UNO-Ausschusses sind unmissverständlich: Es ist Zeit zu handeln! Die Schweiz ist menschenrechtlich dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderungen die gleichberechtigte und autonome Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten.