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Körperstrafen – Die Schweiz sträubt sich gegen ein Verbot

05.06.2018

 

Der Verein «Gewaltfreie Erziehung» macht im 2018 mit einer Petition einen neuen Anlauf für die Verankerung eines Verbots von Körperstrafen im Zivilgesetzbuch.

Der Art. 11 der Bundesverfassung schreibt vor, dass Kinder ein Anrecht auf besonderen Schutz ihrer Unversehrtheit haben. Diese Verpflichtung wird auch von der Kinderrechtskonvention, welche die Schweiz nun schon seit 20 Jahren unterzeichnet hat, gestützt. Trotzdem hat der Nationalrat eine entsprechende Motion mit dem Titel «Abschaffung des Züchtigungsrechts» im Mai 2017 abgelehnt.

Die Motion wurde von der Nationalrätin Chantal Galladé (SP/ZH) eingereicht und verlangte, dass die Gesetzgebung so umformuliert wird, dass Körperstrafen und andere erniedrigende Behandlungen, welche die physische oder psychische Integrität des Kindes beeinträchtigen könnten, im Zivilgesetzbuch verboten werden. Bereits mehrmals wurden ähnliche Motionen vom Parlament abgelehnt, mit der Begründung, dass die aktuelle Gesetzgebung den Kindern  ausreichend Schutz biete.

Sensibilisierungskampagnen

Organisationen aus der Zivilgesellschaft bedauern den Entscheid. Sie warten schon lange auf eine entsprechende Gesetzesänderung und auf eine Verstärkung der präventiven Schutzmassnahmen. Um nicht tatenlos zuzusehen, wie der Prozess auf parlamentarischer Ebene stagniert, haben einige Organisationen eigene Sensibilisierungskampagnen ins Leben gerufen.

Petition für ein Verbot im Zivilgesetzbuch

Die im November 2017 lancierte Petition für «die gesetzliche Verankerung des Rechts auf gewaltfreie Erziehung im Zivilgesetzbuch und die Förderung von gewaltfreier Erziehung» wurde im Juni 2018 wiederbelebt. Sie stammt vom Verein «Gewaltfreie Erziehung».

Ältere Kampagnen

Bereits vor rund 10 Jahren lancierte Terre des Hommes (Tdh) eine weltweite Kampagne gegen Gewalt an Kindern, in der Schweiz mit dem Fokus auf der intrafamiliären Gewalt. Tdh erinnerte schon damals daran, dass die Schweiz 1997 die Kinderrechtskonvention (KRK) ratifiziert hatte. Damit sei sie verpflichtet, die notwendigen Massnahmen zu treffen, um das Kind vor jeglicher Gewalt zu schützen, solange es sich in der Obhut der Eltern oder eines gesetzlichen Vertreters befindet (Art. 19 KRK).

Gemäss einer Tdh-Studie von 2007 hat eines von fünf Kindern unter 2 ½ Jahren in der Schweiz bereits körperliche Bestrafungen erlitten. Zudem wird ein Kind von Hundert regelmässig mit einem Objekt geschlagen. Diese Zahlen zeigen, wie sehr Körperstrafen im Rahmen der Familie banalisiert werden. Körperstrafen gegen Kinder nehmen gemäss Tdh verschiedene Formen an. Dazu gehörten schlagen, gewalttätiges Schütteln oder Stossen des Kindes, kneifen, beissen, brennen oder verbrühen, an den Haaren reissen oder die Kleinsten zur Nahrungsaufnahme zwingen. «All diese Handlungen stellen Verletzungen der Kinderrechte dar, denn sie schaden der körperlicher Integrität und stellen seine Würde in Frage», schreibt Tdh.

Eine weitere Kampagne aus dem Jahr 2013 stammt von der NCBI Schweiz und trägt den Titel «Keine Daheimnisse».

Ist eine Ohrfeige harmlos?

Mildere Formen von körperlichen Züchtigungen werden in der Gesellschaft teilweise akzeptiert. Ihre negativen Auswirkungen werden deshalb von der Bevölkerung und der Politik oftmals unterschätzt. Statistiken zeigen, dass 20% der Eltern in der Schweiz eine Ohrfeige nicht als Gewalt betrachten. Die langfristigen negativen Konsequenzen und die Ineffizienz von Körperstrafen als erzieherische Massnahmen wurden allerdings bereits mehrfach nachgewiesen.

Man sei sich einig darin, dass die körperliche Bestrafung von Kindern abzulehnen sei, erklärten sowohl die Sprecherin der Kommissionsmehrheit, Nationalrätin Christa Markwalder (FDP/BE), als auch Nationalrätin Anita Thanei (SP/ZH), die Sprecherin der Minderheit, im Rahmen der Debatte zur Initiative von Alt Nationalrätin Ruth Gaby Vermot im Jahr 2008. Körperstrafen seien demütigend und entwürdigend. Wenn ein Kind häufig körperlich bestraft werde, dann lerne es, Gewalt als Mittel zur Konfliktlösung einzusetzen. Kinder und Jugendliche, die unter körperlicher Gewalt gelitten hätten, neigten auch eher dazu, später selber Gewalt anzuwenden, sagte Christa Markwalder im Rat.

Zudem fühlen sich Kinder, die Körperstrafen erleiden, oft wertlos, abgelehnt und schuldig. Auf der neurologischen Ebene konnte nachgewiesen werden, dass Körperstrafen durch den Stress, den sie verursachen, die Entwicklung und die Funktion des Hirns negativ beeinflussen.

Körperstrafen sind auf ein Erziehungssystem zurückzuführen, welches auf Dominanz, Angst und Unterwerfung beruht. Dies ist umso stärker der Fall, wenn die Gewalt sich wiederholt und ohne Erklärung erfolgt. Gewaltlose Strafen, die auf Verboten beruhen, welche den Kindern vorgängig verständlich erklärt wurden, fördern hingegen ein Klima des Respekts und der Liebe, in welchem ein Kind gewillt ist, Regeln zu lernen und zu akzeptieren. Eine partizipative Erziehung ohne Gewaltanwendung steht im Einklang mit der Kinderrechtskonvention und den Empfehlungen des UNO-Kinderrechtsausschusses.

Rechtslage in der Schweiz

(teilweise vom SKMR übernommen)

Ein ausdrückliches Züchtigungsrecht existiert in der Schweiz seit 1978 nicht mehr. Die Bundesverfassung enthält in Art. 11 eine Bestimmung zum Schutz der Unversehrtheit von Kindern und Jugendlichen. Gemäss Art. 302 Abs. 1 ZGB haben die Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder deren Entfaltung zu fördern und zu schützen. Im Strafgesetzbuch werden bestimmte Körperverletzungen (Art. 122 StGB, Art. 123 Abs. 2 StGB und Art. 125 Abs. 2 StGB) sowie wiederholte Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 2 StGB) an Kindern geahndet und von Amtes wegen verfolgt.

Gleichzeitig existiert kein Verbot von Körperstrafen, die nicht zu sichtbaren Schäden führen. Was gemäss Umkehrschluss bedeutet, dass solche Körperstrafen erlaubt sind. Die Rechtsprechung des Bundesgerichts hat diese Schlussfolgerung bestätigt, indem sie körperliche Züchtigungen im Rahmen der Familie nicht als physische Gewaltakte betrachtet, wenn sie ein gewisses von der Gesellschaft akzeptiertes Mass nicht überschreiten und die Bestrafung nicht allzu häufig wiederholt wird (ATF 129 IV 216, ATF 117 IV 14). Ein «von der Gesellschaft akzeptiertes Mass» kann jedoch nicht problemlos festgelegt werden, da zwischen den verschiedenen Generationen, Gemeinschaften und sozioökonomischen Gruppen keine Einigkeit bezüglich eines einheitlichen Masses an akzeptierter körperlicher Bestrafung besteht. Deshalb führt diese Handhabung zu einer Rechtsunsicherheit.

Im Falle von einfachen fahrlässigen Körperverletzungen (Art. 125 Abs. 1 StGB) sowie nicht wiederholten Tätlichkeiten (Art. 126 Abs. 1 StGB) an Kindern, welche nur auf Antrag geahndet werden, muss gemäss der aktuellen Gesetzgebung der Vormund des Opfers die Klage einreichen. Dies obwohl im Falle von körperlicher Züchtigung der Vormund auch der Täter bzw. die Täterin ist und sich somit selbst anklagen müsste.

Insbesondere aufgrund dieser Inkohärenzen fordern die Zivilgesellschaft und der Kinderrechtsausschuss ein totales Verbot. Zudem hat die Schweiz die Istanbul-Konvention ratifiziert, welche explizit sämtliche häusliche Gewalt verbietet, auch jene gegen Kinder. Will die Schweiz ihren internationalen Verpflichtungen nachkommen, muss sie somit ein Verbot von Körperstrafen an Kindern einführen.

Verstoss gegen die Kinderrechtskonvention

Der Art. 37 der Kinderrechtskonvention verbietet erniedrigende Behandlungen von Kindern und Art. 4 verpflichtet die Staaten, diese Rechte umzusetzen. Insbesondere Art. 19 Abs.1 fordert die Staaten unmissverständlich dazu auf, geeignete Gesetzgebungs-, Verwaltungs-, Sozial- und Bildungsmassnahmen zu treffen, um das Kind vor jeder Form körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung zu schützen.

Bereits im Jahr 2002 hatte der UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes der Schweiz empfohlen, dringende Massnahmen zu ergreifen, um die Gesetzgebung so anzupassen, dass alle Körperstrafen in der Familie und in der Schule verboten werden. Gemäss dem Ausschuss müssen auch erzieherische Körperstrafen untersagt werden, damit die Schweiz die Vorgaben der Konvention erfüllt. Im gleichen Jahr hat der Ausschuss seinen ersten General Comment zur Kindererziehung veröffentlicht, welcher im Jahr 2006 vom General Comment Nr. 8 ergänzt wurde. Dieser General Comment äussert sich zum Recht des Kindes, vor Körperstrafen und anderen Formen von grausamer und erniedrigender Bestrafung geschützt zu werden. Zudem bietet der Kommentar eine Definition von Körperstrafen und anderen Formen grausamer oder herabsetzender Bestrafungen. Der Kinderrechtsausschuss veröffentlichte mit seinem «General Comment Nr. 13» im April 2011 zudem einen Kommentar zum entsprechenden Konventionsartikel, in dem auch umfangreiche Massnahmen betreffend Pflichten der Staaten zum Schutz der Kinder aufgezeigt werden.

Empfehlung des Europarats

Regionale Organisationen haben sich ebenfalls bereits mit dem Thema auseinandergesetzt. Am 24. Juni 2004 hat die Parlamentarische Versammlung des Europarates eine Empfehlung an seine Mitgliedsstaaten erlassen, die ein generelles Verbot für Köperbestrafungen gegenüber Kindern und Jugendlichen vorsieht. Unter den Ja-Stimmenden für die Empfehlung war auch die Schweiz.

Die Schweiz wurde auch bereits bei mehreren Gelegenheiten für ihren Umgang mit Körperstrafen getadelt, vor allem vom Ausschuss für die Rechte des Kindes. Der Ausschuss hat den Mangel an einem Verbot von Körperbestrafen insbesondere im Jahr 2002 (vgl. oben) und 2015 angeprangert.

Im Juni 2014 hat die Global Initiative to End All Corparal Punishment of Children eine Studie veröffentlicht, welche die weltweiten Bemühungen zum kompletten Verbot von Körperstrafen an Minderjährigen aufzeigt. Es zeigt sich, dass neben der Schweiz in Westeuropa nur Belgien und Italien keine Schritte zu einem generellen Verbot solcher Strafen unternehmen wollen.

Unter der Lupe des UPR-Verfahrens

In seinen Empfehlungen im Rahmen des UPR-Verfahrens von 2008 hat auch der UN-Menschenrechtsrat die Schweiz ebenfalls dazu aufgefordert, Körperstrafen an Kindern in der Schweiz gänzlich zu verbieten. Obwohl die Schweiz die Empfehlung angenommen hat, wurden diese noch immer nicht umgesetzt. Eine Koalition aus verschiedenen NGOs und auch gewisse kantonale Vertreter/innen haben sich allerdings stark für entsprechende Massnahmen eingesetzt.

Der NGO-Bericht zum dritten UPR-Zyklus von 2017 fordert die Schweiz ein weiteres Mal auf, einen Gesetzgebungsprozess in Gang zu setzen, der Körperstrafen verbietet (Empfehlung 17).

Parlamentarische Debatten

Das Parlament und der Bundesrat sind zu einem grossen Teil verantwortlich dafür, dass die Situation sich nicht verbessert hat. Das Thema der Körperstrafen ist nicht neu in den Kammern. Die Motion von Chantal Galladé reiht sich in eine Reihe von abgelehnten parlamentarischen Geschäften von 2013, 2007 und 2006.

Am 2. Dezember 2008 hatte der Nationalrat eine parlamentarische Initiative von Alt Nationalrätin Ruth Gaby Vermot zum verbesserten Schutz für Kinder vor Gewalt mit 102 zu 71 Stimmen abgelehnt. Der Vorstoss wurde 2006 eingereicht und wollte die gewaltfreie Erziehung gesetzlich verankern und den Eltern einen klaren Orientierungsrahmen für die Erziehung geben. Dazu sollte mittels eines zusätzlichen Absatzes in  Art. 302 des Zivilgesetzbuches (ZGB) ein Verbot der körperlichen Gewalt eingeführt werden.

Die SP-Nationalrätin Jacqueline Fehr hat 2007 ein Postulat zum Thema «Schutz der Kinder und Jugendlichen vor Gewalt in der Familie» eingereicht. Zudem hat sie 2013 eine Anfrage mit dem Titel «Gewalt in der Erziehung. Wie stoppen?» formuliert. Als Antwort auf das Postulat von Jacqueline Fehr verabschiedete der Bundesrat im Juni 2012 einen Bericht zum Schutz der Kinder vor Gewalt in der Familie. Mängel räumt der Bericht im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe ein, für welche in erster Linie die Kantone und Gemeinden zuständig sind. In seinem Bericht schafft der Bundesrat zudem die bisher fehlenden einheitlichen Definitionen und er will «die zuständigen Akteure auf kantonaler Ebene bei der Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe unterstützen».

Gleichzeitig kommt das federführende Bundesamt für Sozialversicherungen BSV im Bericht aber zum Schluss, dass die bestehenden Sanktionen gegen Täter ausreichend sind, so insbesondere die «staatlichen Massnahmen bei strafbaren Handlungen gegen Unmündige und der direkte Schutz der Opfer vor Gewalt (Annäherungs-, Orts- und Kontaktaufnahmeverbot)». Die geplanten Gesetzesrevisionen sehen denn auch kein generelles Verbot von Körperstrafen an Kindern vor. In seiner Antwort auf die Anfrage von Nationalrätin Jacqueline Fehr von 2013 verweist der Bundesrat auf seinen Bericht und wiederholt seine Begründung.

Ebenfalls im 2013 hat die SP-Nationalrätin Yvonne Feri eine Motion eingereicht. Die Motion fordert erneut eine gesetzliche Verankerung des Rechts auf eine Gewaltfreie Erziehung. In seiner Antwort schreibt der Bundesrat, dass er der Ansicht sei, dass die Schweiz mit der aktuellen Gesetzgebung die Anforderungen der Kinderrechtskonvention bezüglich des Schutzes von Kindern vor körperlicher oder geistiger Gewaltanwendung erfülle.

Mit dem gleichen Argument antwortete der Bundesrat auch auf die Motion von 2017 der Nationalrätin Chantal Galladé. Er hält fest, dass das geltende ZGB zwar kein ausdrückliches Züchtigungsverbot enthält, es aber der heutigen Auffassung entspreche, dass ein Züchtigungsrecht der Eltern mit dem Wohl des Kindes nicht zu vereinbaren sei. «Eine gesetzliche Bestimmung, die diesen Grundsatz im ZGB ausdrücklich festhält, erscheint angesichts dieser Rechtslage nicht notwendig», so der Bundesrat.

Aufschrei der Zivilgesellschaft

Kinderschutz-Organisationen in der Schweiz sind empört darüber, dass das Projekt, die Körperstrafen für Kinder in der Schweiz ganz zu verbieten, kein Echo in der Politik findet. Gemäss der Zivilgesellschaft würde ein entsprechender Absatz im Art. 302 des ZGB im Laufe der Zeit dazu führen, dass sich die Mentalität in der Schweiz ändert, so dass kaum Strafen erteilt bzw. Zivilverfahren eröffnet werden müssten. Zudem gäbe es in anderen europäischen Ländern ähnliche Bestimmungen, die sich bewährt hätten.

Bereits im Jahr 2009 hatte das Netzwerk Kinderrechte Schweiz in seinem Schattenbericht zum zweiten Berichterstattungszyklus der Schweiz zuhanden des UNO-Kinderrechtsausschusses aufgezeigt, dass die Schweiz durch die Ablehnung der parlamentarischen Initiative Vermot-Mangold im Vergleich zur gesetzlichen Lage in anderen westeuropäischen Ländern und auch bezüglich der 2008 vom Europarat lancierten Kampagne gegen Körperstrafen eindeutig im Hintertreffen liegt. Ausser Frankreich haben sämtliche Nachbarländer der Schweiz Körperstrafen sowie andere erniedrigende Strafen an Kindern verboten. 51 Staaten (darunter 47 aus Europa) haben sich bereits für ein solches Verbot ausgesprochen. Dies mit Erfolg, denn das Verbot hat zu einem Rückgang an Körperstrafen an Kindern geführt.

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