18.04.2019
Die Praxis der Administrativhaft für Kinder und Jugendliche wird seit Jahren kritisiert – bisher ohne namhafte Folgen.
Sie erscheinen in regelmässigen Abständen – die Berichte von Nichtregierungsorganisationen, in welchen die Inhaftierung von Kindern und Jugendlichen aus ausländerrechtlichen Gründen kritisiert wird. Nun verdeutlicht auch eine von der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates in Auftrag gegebene Untersuchung, dass dringender Handlungsbedarf besteht. In den Jahren 2011 und 2014 wurden demnach 200 minderjährige Personen inhaftiert, nachdem sie einen negativen Asylentscheid erhalten hatten. Besonders brisant: Auch Kinder unter 15 Jahren sind von diesen «Administrativmassnahmen» betroffen. Dies, obwohl die Behörden damit nicht nur ihre Pflichten gemäss der UNO-Kinderrechtskonvention (KRK), sondern auch nationales Recht verletzen.
Genaues Ausmass unbekannt
Die Anzahl der betroffenen minderjährigen Personen kann indes nur geschätzt werden, weil die Kantone die Zahlen nur unsystematisch erfassen. Das Kinderhilfswerk Terre des Hommes stellte in einer Bestandesaufnahme vom November 2018 zudem fest, dass die Zahlen des Staatssekretariats für Migration bis zu viermal höher sind als jene, die aus den individuellen Angaben der Kantone hervorgehen.
Trotz der unzuverlässigen Angaben sind einige Schlussfolgerungen auf die Situation in den Kantonen möglich. Während die Mehrheit der Kantone gänzlich auf die Inhaftierung von Minderjährigen unter 15 Jahren verzichtet, gehen 89% der Inhaftierten auf das Konto des Kantons Bern.
Zweckmässigkeit zweifelhaft
Die Administrativhaft von Jugendlichen ohne Aufenthaltsrecht dient dazu, den Vollzug ihrer Wegweisung sicherzustellen (u.a. Art. 76 AIG). Eine Voraussetzung für diese Form der Haft ist, dass der Wegweisungsvollzug der Betroffenen absehbar sein muss. Der Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates zieht jedoch in Zweifel, dass dieser Kausalzusammenhang in der Praxis gegeben ist. Denn er zeigt auf, dass die Ausreisequote bei Jugendlichen in Administrativhaft tiefer ist als bei Erwachsenen, was gemäss den Autorinnen und Autoren zeigt, dass die Massnahme nur bedingt zweckmässig ist.
Es kommt erschwerend hinzu, dass die Haftbedingungen teilweise internationales Recht verletzen. So müssten Minderjährige strikt getrennt von Erwachsenen untergebracht und Freizeitbeschäftigungen zur Verfügung gestellt werden. Dies ist gerade bei unbegleiteten Jugendlichen oft nicht der Fall, wie der UNO-Ausschuss gegen Folter festhält. Auch Terre des hommes kritisiert die geltende Praxis: «Während einige Kantone der Empfehlung, Kinder nicht zu inhaftieren, Folge leisten, werden Kinder in manchen Kantonen zusammen mit Erwachsenen inhaftiert, zu denen sie keinen Bezug haben und die teils aus einem kriminellen Umfeld kommen». In gewissen Kantonen müssen Minderjährige die Administrativhaft sogar in Einrichtungen des Strafvollzugs verbringen. Das Flughafengefängnis in Zürich Kloten ist gemäss Terre des Hommes als einzige Schweizer Einrichtung im Stande, eine strikte Trennung von minderjährigen und erwachsenen Personen in der Administrativhaft zu garantieren.
Wie steht es um das Kindeswohl?
Der UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes geht in seinen Allgemeinen Bemerkungen zur Kinderrechtskonvention noch einen Schritt weiter. Auch wenn das Übereinkommen solche Inhaftierungen als letztes Mittel erlaube, dürften Personen unter 18 Jahren gemäss des Grundsatzes des Kindeswohls (Art. 3 KRK) in der Regel nicht inhaftiert werden. Dies gelte unabhängig davon, ob sie sich in Begleitung eines Erwachsenen befinden oder nicht. Terre des Hommes argumentiert in diesem Sinne, dass die Adminstrativhaft den Jugendlichen schade und zu ernsten klinischen Symptomen, wie schweren Depressionen, Angstzuständen, posttraumatischen Störungen und sogar zur Selbstverstümmelung, führen könne.
Ironischerweise ziehen einige Kantone gerade den Grundsatz des Kindeswohls hinzu, um die Inhaftierung von begleiteten Kindern unter 15 Jahren zu rechtfertigen. Nur so könne die Trennung von Eltern und Kindern vermieden werden. Indessen sind sich Expertinnen und Experten einig, dass Kinder unter 15 Jahren nie in Administrativhaft genommen werden dürfen, auch wenn diese im Familienverbund erfolgt und der Haftbefehl nicht den Kindern, sondern deren Eltern gilt.
Ist eine Gesetzesänderung realistisch?
Die von Terre des Hommes veröffentlichen Zahlen zeigen, dass nur zwei Kantone die Inhaftierung von minderjährigen Migrantinnen und Migranten verbieten. Sechs weitere Kantone verzichten in der Praxis auf die Administrativhaft für Minderjährige. Acht Kantonen erachten diese als gesetzlich vorgesehene Zwangsmassnahme.
Ein allgemeines, nationales Inhaftierungsverbot für Minderjährige aus migrationsrechtlichen Gründen zeichnet sich ebenfalls nicht ab. So hat der Nationalrat in der Frühjahrssession 2019 eine entsprechende parlamentarische Initiative von Nationalrätin Lisa Mazzone (Grüne/GE) mit 118 zu 57 Stimmen bei drei Enthaltungen abgelehnt. Damit hält das Parlament seine harte Linie bei.
Auch bei unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden ortet der Bundesrat keinen Handlungsbedarf, da «eine Haft bei unbegleiteten Minderjährigen nur im äussersten Fall und für die kürzest mögliche angemessene Haftdauer angeordnet» werde, wir er in der Antwort auf eine Interpellation von Nationalrätin Piller Carrard (SP/FR) im Jahr 2016 festhielt. Dies obwohl die Schweiz einer Resolution des Europarats zugestimmt hat, in welcher gefordert wird, dass die Mitgliedstaten gänzlich auf die Inhaftierung unbegleiteter minderjähriger Asylsuchenden verzichten. Ganz anders präsentiert sich die Situation in manchen anderen europäischen Ländern – Haftmassnahmen gegenüber unbegleiteten Kindern und Jugendlichen sind auch in stark von Migration betroffenen Staaten wie Ungarn, Italien und Spanien verboten.
Kommentar
Der Freiheitsentzug stellt für Minderjährige einen besonders massiven Eingriff in die persönliche Freiheit und in den Grundsatz des Kindeswohls dar. Ein rein ausländerrechtlich motivierter Haftgrund vermag einen solchen Eingriff in die Kinderrechte nicht zu begründen. Die Argumentation einiger Kantone, die Inhaftierung von Kindern unter 15 Jahren diene dem Kindeswohl, weil dadurch die Trennung von Kindern und Eltern vermieden werden könne, ist zynisch. Wie die Praxis einiger Kantone zeigt, die generell auf solch extreme Massnahmen verzichten, gibt es genügend Alternativen, den Vollzug einer Wegweisung zu garantieren. Die Anordnung von Administrativhaft bei Minderjährigen ist deshalb in keinem Fall zumutbar, worauf verschiedene internationale Menschenrechtsgremien hingewiesen haben. Es ist an der Zeit, dass der Bundesrat seine Aufsichtspflicht über die Kantone im Bereich des Wegweisungsvollzuges ernst nimmt. Gefordert sind gesetzgeberische Massnahmen, welche ausländerrechtliche Haftmassnahmen gegen Kinder bzw. Jugendliche unter 18 Jahren in allen Fällen und in allen Kantonen ausschliessen.
Dokumentation
- Bestandesaufnahme zur Administrativhaft von minderjährigen MigrantInnen in der Schweiz
Bericht von Terre des hommes, November 2018 (pdf, 112 S.) - Illegale Inhaftierung von Migrantenkindern in der Schweiz: ein Lagebericht
Bericht von Terre des hommes, Juni 2016 (pdf, 44 S.) - Administrativhaft von Kindern
Schweizerische Flüchtlingshilfe (pdf, 1 Seite) - Administrativhaft im Asylbereich
Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates, 26. Juni 2018 (pdf, 21 S.) - Administrativhaft im Asylbereich
Stellungnahme des Bundesrates zum Bericht der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates (GPK-N) vom 26. Juni 2018 (pdf, 15 S.) - Behandlung unbegleiteter und von ihren Eltern getrennter Kinder ausserhalb ihres Herkunftslandes
Kinderrechtsausschuss, allgemeine Bemerkung Nr. 6 (2005), CRC/GC 2005/6 (RZ 61-63) - Die Rechte aller Kinder im Kontext der Internationalen Migration
Kinderrechtsausschuss, Bericht des Tags der Allgemeinen Diskussion 2012 (RZ 78) - Die Schweiz soll keine Kinder mehr in Ausschaffungshaft nehmen
NZZ, 28. Juni 2018 - Umstrittene Ausschaffungshaft - Dutzende Jugendliche in Schweizer Gefängnissen
srf, Echo der Zeit, 28. Juni 2018 - Mit 17 nackt in der Betonzelle
Tages-Anzeiger vom 16. Juni 2016