30.04.2019
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) verurteilte die Schweiz am 30. April 2019 wegen der fürsorgerischen Unterbringung eines psychisch kranken Menschen in der JVA Lenzburg (T.B. gegen die Schweiz). Der EGMR hielt in seinem Urteil fest, dass eine fürsorgerische Unterbringung alleine aufgrund von Fremdgefährdung von Art. 426 ZGB nicht vorgesehen sei. Der Freiheitsentzug entbehre deshalb einer innerstaatlichen gesetzlichen Grundlage und verletze Art. 5 § 1 lit. e) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK).
Der Sachverhalt
Der Beschwerdeführer hatte am 10. Februar 2008 eine Frau vergewaltigt, stranguliert und anschliessend umgebracht. Das Jugendgericht verurteilte den zur Tatzeit 17-jährigen Mann zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren. Man brachte ihn in einer geschlossenen Anstalt unter und therapierte seine psychische Störung. Mit Vollendung des 22. Altersjahres wäre er von Gesetzes wegen entlassen worden, da er die Freiheitsstrafe verbüsst hatte. Damals durften Massnahmen gemäss Jugendstrafrecht höchstens bis zum 22. Lebensjahr dauern. Neu ist dies bis zum 25. Lebensjahr möglich.
Fürsorgerische Unterbringung nach Strafverbüssung
Weil der Mann nach Verbüssung seiner Strafe noch immer als gefährlich eingestuft wurde, verfügte das Bezirksamt am 20. Juni 2012 einen fürsorgerischen Freiheitsentzug, FFE (heute fürsorgerische Unterbringung, FU) und ordnete die Überweisung in den Sicherheitstrakt der Justizvollzugsanstalt Lenzburg an. Gegen diesen Entscheid erhob der Mann Beschwerde, welche das Bundesgericht am 5. September 2012 abwies (BGE 138 II 593). Das Bundesgericht hiess hierbei die FFE/FU allein aufgrund des Merkmals der Fremdgefährdung gut und änderte damit die bisherige Praxis und den Zweck der FFE. Bis anhin war die Fremdgefährdung kein eigenständiger Grund für die FFE, sondern bloss ein Indiz für die Fürsorgebedürftigkeit. Grundvoraussetzung einer FFE war bisher immer, dass der Betroffene krankheits- oder suchtbedingt ausserstande war, für sich zu sorgen.
Strafanstalt anstatt psychiatrische Einrichtung
Die ersten drei Jahre verbrachte der Beschwerdeführer in der Hochsicherheitsabteilung der Strafanstalt. Erst am 18. August 2015 wurde er schliesslich in den Normalvollzug verlegt. Im Rahmen der periodischen Überprüfung beantragte der Beschwerdeführer regelmässig die Entlassung aus der Haft und gelangte hierbei mehrfach bis ans Bundesgericht. Dieses wies seine Beschwerden allesamt ab. In seinem Entscheid vom 22. November 2013 (5A_614/2013) gab das Bundesgericht dem Beschwerdeführer teilweise Recht und ordnete eine Ausdehnung des Therapieangebots auf drei wöchentliche Sitzungen an. Das Fünferkollegium erwog weiter, dass der Betroffene so rasch als möglich in einer psychiatrischen Klinik, einer anderen Einrichtung oder an einem anderen Ort untergebracht werden müsse. Trotzdem wurde der Beschwerdeführer erst fünf Jahre später – am 28. September 2018 – aus der JVA Lenzburg entlassen. Zuletzt bestätigte das Bundesgericht die Rechtmässigkeit des Freiheitsentzugs am 9. November 2016 (5A_617/2016).
Der Betroffene hat gegen einen früheren Entscheid vom 8. Juli 2014 Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht (BGE 5A_500_2014). Er machte namentlich geltend, dass es sich bei der JVA Lenzburg nicht um eine geeignete Einrichtung im Sinne einer zivilgesetzlichen, fürsorgerischen Schutzmassnahme handle. Zudem könne das alleinige Kriterium der Fremdgefährdung nicht für eine fürsorgerische Unterbringung herangezogen werden.
Das Urteil
Der EGMR verurteilte die Schweiz wegen einer Verletzung des Rechts auf Freiheit und Sicherheit (Art. 5 § 1 Buchst. e) EMRK). Hingegen äusserte er sich nicht zur Frage, ob die JVA eine geeignete Einrichtung im Sinne des Gesetzes war. Diese Frage erübrige sich, da die gesetzliche Grundlage gänzlich fehle. Der Gerichtshof sprach dem Beschwerdeführer für seine Haftzeit von April 2014 bis April 2015 eine Entschädigung von 25‘000 EUR für den immateriellen Schaden zu.
Der EGMR weist in seinem Urteil darauf hin, dass die präventive Inhaftierung von psychisch kranken Menschen durch die EMRK nicht prinzipiell ausgeschlossen sei. Allerdings müsse sich diese auf eine ausreichende innerstaatliche Grundlage stützen. Der hier fragliche Art. 426 ZGB stelle hingegen keine ausreichende Grundlage für die fürsorgerische Unterbringung dar, da die reine Fremdgefährdung den Voraussetzungen von Art. 426 ZGB nicht genüge.
Keine gesetzliche Grundlage
Voraussetzung für eine fürsorgerische Unterbringung nach Art. 426 ZGB ist einerseits ein Schwächezustand, der vorliegend gemäss EGMR durch die diagnostizierte psychische Störung des Beschwerdeführers gegeben sei. Andererseits ist eine Selbstgefährdung und ein damit verbundener Behandlungs- und Betreuungsbedarf vorausgesetzt. Die Argumentation des Bundesgerichts, dass sich aus dem Fremdgefährdungspotenzial eines Geisteskranken fast zwangsläufig ein Beistands- und Fürsorgebedürfnis im Sinne des Gesetzes ergebe, lehnt der EGMR als zu pauschal ab.
Der EGMR führt aus, dass in Art. 426 Abs. 2 zwar festgehalten sei, dass die Belastung und der Schutz von Angehörigen und Dritten bei der fürsorgerischen Unterbringung als zusätzliche Elemente zu berücksichtigen sind. Das Kriterium der Fremdgefährdung dürfe allerdings nie als alleiniger Grund für eine fürsorgerische Unterbringung herangezogen werden. Dies habe das Bundesgericht in seinem Leitentscheid BGE 138 III 593 E.3 selber explizit so festgehalten («Insbesondere sieht das Gesetz keine fürsorgerische Freiheitsentziehung allein wegen Fremdgefährdung vor»).
Kommentar
Die Fürsorgerische Unterbringung dient der Fürsorge für die betroffene Person und nicht dem Schutz der Öffentlichkeit. Letzteres ist eine polizeiliche Aufgabe, welche andere Rechtsinstitute übernehmen müssen. Mit dem heutigen Urteil hat der EGMR diesen Grundsatz bestätigt und damit eine klare Grenze in Bezug auf die aktuelle Rechtslage gezogen.
Hingegen äusserte sich der EGMR nicht zur grundsätzlichen Frage, inwiefern ein rein präventiver Freiheitsentzug wegen Fremdgefährdung mit der EMRK kompatibel wäre, sollte eine entsprechende Gesetzesgrundlage als Ersatz für die jugendstrafrechtliche Unterbringung ab dem 26. Lebensjahr geschaffen werden. Die Schaffung einer solchen Grundlage wird von der Bundesversammlung im Rahmen der geplanten Änderung des Strafgesetzbuches «für mehr Sicherheit bei gefährlichen Tätern» angestrebt.