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Das beschleunigte Asylverfahren: «zufriedenstellend» ist nicht gut genug

18.11.2021

Das Asylverfahren hat sich mit seiner Revision im Jahr 2019 wesentlich verändert. Zwei Jahre nach Einführung bewertet eine erste Evaluation nun das beschleunigte Verfahren als «grundsätzlich zufriedenstellend». Das ist aus menschenrechtlicher Sicht unbefriedigend: Zum Schutz der asylsuchenden Personen sind gezielte Anpassungen notwendig.

Mit der Revision vom 1. März 2019 wurde das Asylverfahren neu strukturiert, um seine Durchführung zu beschleunigen und die Zahl von Beschwerden gegen Asylentscheide zu verringern. Ein Grossteil der Asylgesuche wird neu im sogenannten beschleunigten Verfahren beurteilt, das sich durch kurze Verfahrensfristen und eine zentralisierte Unterbringung der asylsuchenden Personen kennzeichnet. Die Beschleunigung bewirkt zwar, dass asylsuchende Personen rasch Klarheit haben, ob sie in der Schweiz bleiben dürfen oder nicht. Das hohe Verfahrenstempo führt aber auch dazu, dass die Asylgründe oftmals nur ungenügend abgeklärt und auf Kosten der asylsuchenden Personen Fehlentscheide gefällt werden.

Laut dem Staatssekretariat für Migration (SEM) hat sich das beschleunigte Asylverfahren «grundsätzlich bewährt» und wird «rechtsstaatlich korrekt umgesetzt». Seit Einführung des neuen Asylverfahrens seien zudem bereits Verbesserungen vorgenommen worden und die Zahl von Rückweisungen von Entscheiden durch das Bundesverwaltungsgericht deutlich zurückgegangen. Flüchtlingsorganisationen und Anwält*innen sehen jedoch nach wie vor grossen Handlungsbedarf. So kritisiert das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich – ein Zusammenschluss von Beratungsstellen, Organisationen, Anwält*innen und engagierten Einzelpersonen –, dass das neue Asylverfahren weiterhin zu schnell durchgeführt werde und deshalb anfällig für Fehlentscheide sei. In einem vom SEM in Auftrag gegebenen Evaluationsbericht hat auch das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte (SKMR) einerseits die Prozessqualität und andererseits den Rechtsschutz und die Qualität der Entscheide bewertet und Empfehlungen an die Migrationsbehörde und die Rechtsvertreter*innen formuliert, die es nun umzusetzen gilt.

Das neue Asylverfahren

Im Asylverfahren gemäss dem revidierten Asylgesetz (AsylG) können Asylgesuche in einem Bundesasylzentrum, am Flughafen oder an der Schweizer Grenzkontrolle gestellt werden. Die Asylsuchenden werden nicht wie bisher in Empfangs- und Verfahrenszentren untergebracht, sondern auf die Bundesasylzentren der sechs Asylregionen verteilt. Für die Prüfung der Asylgesuche ist das Staatssekretariat für Migration zuständig.

Asylsuchende Menschen werden innerhalb von 72 Stunden nach ihrem Antrag einem Bundesasylzentrum zugewiesen, in welchem innerhalb von 21 Tagen die Vorabklärungen erfolgen. So wird etwa abgeklärt, ob ein anderer Dublin-Staat für das Asylgesuch zuständig ist und die Anhörung zu den Asylgründen durchgeführt.

Danach findet eine Triage statt: Ist die Sachlage klar, wird ein Asylgesuch im beschleunigten Verfahren in einem Bundesasylzentrum behandelt. Innerhalb von acht Tagen wird noch im Bundesasylzentrum selbst ein erstinstanzlicher Asylentscheid gefällt. Fällt der Entscheid positiv aus, wird die betroffene Person für die Unterbringung und Integration einem Kanton zugewiesen. Fällt der Entscheid negativ aus, wird ein Wegweisungsvollzug angeordnet. Die maximale Aufenthaltsdauer in den Bundesasylzentren beträgt 140 Tage. Wird dieser Wert überschritten, müssen auch diese Personen in einen Kanton verlegt werden, welcher für den Vollzug der Wegweisung und die Nothilfe zuständig ist.

Sind nach der Anhörung zu den Asylgründen jedoch weitere Abklärungen notwendig, dann wird das erweiterte Verfahren eingeleitet und die asylsuchende Person einem Kanton zugewiesen. Nach dieser Zuweisung soll innerhalb von zwei Monaten ein erstinstanzlicher Entscheid getroffen werden. Unabhängig davon, ob der Entscheid positiv oder negativ ausfällt, bleibt der Kanton für die Integration oder die Wegweisung zuständig.

Beschleunigung auf Kosten der Qualität und Fairness

Die Zuweisung von komplexen Fällen ins beschleunigte anstelle des erweiterten Verfahrens hat insbesondere im ersten Jahr nach der Revision zu einer grossen Zahl erfolgreicher Beschwerden gegen Entscheide des SEM vor dem Bundesverwaltungsgericht geführt. Laut der Migrationsbehörde wurden in der Zwischenzweit erste Anpassungen vorgenommen und mehr Asylgesuche im erweiterten Verfahren geprüft.

Gemäss dem Schweizerischen Kompetenzzentrum für Menschenrechte und zivilgesellschaftlichen Organisationen, wie etwa der Schweizerischen Flüchtlingshilfe, werden jedoch nach wie vor zu viele komplexe Fälle im beschleunigten Verfahren behandelt – auf Kosten der Qualität der Entscheide und der Fairness der Verfahren. Der mit dem beschleunigten Verfahren verbundene Zeitdruck, beziehungsweise das Bemühen, einen Fall im beschleunigten Verfahren zu behandeln, führt in vielen Fällen zu ungenügenden oder unvollständigen Sachverhaltsabklärungen. Gerade auch die Erkennung von Personen mit besonderen Bedürfnissen, wie traumatisierte Menschen oder Opfer von Menschenhandel, hat darunter zu leiden.

Das SKMR bewertet die Qualität der Asylentscheide in seiner Evaluation bloss als «zufriedenstellend». Das ist alarmierend, denn ein Fehlentscheid im Asylverfahren kann die Gefährdung des Lebens eines asylsuchenden Menschen bedeuten.

Mangelhafte Mitwirkungsrechte

Ein wichtiges Instrument im Asylverfahren ist die Möglichkeit für die Rechtsvertretung, zum Entwurf des Asylentscheids Stellung zu nehmen. Dies stellt eine wesentliche Verbesserung gegenüber dem alten Asylverfahren dar und konkretisiert den verfassungsmässigen Anspruch auf rechtliches Gehör der Asylsuchenden. Die Stellungnahme gestaltet sich in der Realität jedoch als anspruchsvoller Verfahrensschritt. Die Rechtsvertreter*innen bemängeln, dass Stellungnahmen innert einer 24-stündigen Frist eingereicht werden müssen, nur selten zu einer Änderung eines Entscheids oder dessen Begründung führen und sich das Staatssekretariat für Migration ungenügend mit ihnen auseinandersetzt. Gemäss SKMR bestehen in der Praxis zudem grosse regionale Unterschiede, insbesondere wenn es um die Erstreckung der Frist für Stellungnahmen geht.

Schliesslich erweist sich im beschleunigen Asylverfahren auch die Umsetzung der Akteneinsicht als problematisch – insbesondere bei einem Wechsel der Rechtsvertretung. Das Staatssekretariat für Migration stellt sich in diesem Zusammenhang auf den Standpunkt, dass der Partei bereits bekannte Aktenstücke grundsätzlich nur auf ausdrücklichen Antrag ausgehändigt werden müssen. In diesem Zusammenhang dokumentierte das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte einen Fall, in welchem das SEM – nach Mandatsniederlegung der zugewiesenen Rechtsvertretung – einem externen Rechtswalt die Akten ohne die von der asylsuchenden Person bereits eingereichten Beweismittel zustellte. Erst durch eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht wurde dem Rechtsanwalt vollständige Akteneinsicht gewährt. Diese Praxis des SEM erschwert eine angemessene Vertretung der asylsuchenden Personen und führt zu unnötigen Verfahrensverzögerungen.

Unterschiedliche Rollenverständnisse

Jede asylsuchende Person hat Anspruch auf eine kostenlose Rechtsvertretung. Obwohl die Rechtsvertreter*innen ihren Auftrag grundsätzlich sorgfältig wahrnehmen, scheint ihr Rollenverständnis nicht in allen Regionen vollständig geklärt zu sein: Während sich manche als Interessensvertreter*innen und Anwält*innen der Asylsuchenden verstehen, beschränken andere ihre Aufgabe auf die Sicherstellung eines rechtsstaatlich korrekten Verfahrens.

Diese Diskrepanz wird etwa bei den Stellungnahmen zu den Entwürfen von Asylentscheiden oder der Erhebung von Beschwerden gegen definitive Asylentscheide deutlich. Während in gewissen Regionen mit den Stellungnahmen fast schon «Mini-Beschwerden» eingereicht werden, halten sich die Rechtsvertreter*innen in anderen Kantonen deutlich kürzer und allgemeiner. Zudem verzichten kostenlose Rechtsvertreter*innen – vor allem in der Deutschschweiz – in einer nicht unbeachtlichen Zahl von Fällen wegen angeblicher Aussichtslosigkeit auf die Erhebung einer Beschwerde gegen Asylentscheide und legen ihr Mandat nieder. Will die asylsuchende Person trotzdem Beschwerde einreichen, muss sie innerhalb der sehr kurzen Beschwerdefrist eine externe Rechtsvertretung finden. Aussagen von einzelnen Rechtsvertreter*innen im Rahmen der Evaluation des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte legen nahe, dass die mangelhafte Wahrnehmung der Beschwerderechte und die damit verbundene Mandatsniederlegung nicht zuletzt auch mit dem enormen Zeitdruck und dem hohen Verfahrenstempo zusammenhängen.

Die Beschwerde ist ein zentrales Instrument, mit dem die Verfahrensrechte der asylsuchenden Personen gewahrt und Fehlentscheide korrigiert werden können. Der effektive Rechtsschutz im Verfahren darf aus diesem Grund nicht davon abhängen, in welchem Asylzentrum eine Person untergebracht ist. Umso wichtiger ist es, das Kriterium der Aussichtslosigkeit – etwa im Sinne des Grundsatzes «im Zweifel eine Beschwerde» – schweizweit einheitlich auszulegen.

Schliesslich führt der häufige Wechsel der Rechtsvertretung zwangsläufig zu einem Verlust des Knowhows über den Fall und einem Vertrauensverlust der asylsuchenden Person gegenüber ihrer Vertretung. Ohne ein Vertrauensverhältnis gestaltet sich eine qualitativ gute Rechtsvertretung und die Feststellung der Vulnerabilität schwierig. Gleichzeitig lassen sich Handwechsel kaum vermeiden. Um ihren negativen Auswirkungen entgegenzuwirken, scheinen eine Verlängerung der Verfahrensfristen und eine kulante Handhabung von Fristerstreckungsgesuchen durch das SEM unabdingbar.

In diesem Zusammenhang ist zuletzt auf die prekäre Situation in den Bundesasylzentren ohne Verfahrensfunktion hinzuweisen. Aufgrund derer äusserst peripheren Lage haben dort untergebrachte Asylsuchende oft nicht die Möglichkeit, sich an eine externe Informations- oder Beratungsstelle zu wenden. Umso wichtiger ist die Rolle der mandatierten Rechtsvertreter*innen. Sie sind aus logistischen und organisatorischen Gründen jedoch nur selten anwesend und die Kommunikation findet häufig nur per Videokonferenz statt. Besonders problematisch ist die verzögerte Mitteilung und Aushändigung von Entscheiden und die Eröffnung von Entscheiden durch Videokonferenz. Damit werden nicht nur die Verfahrens- und Beschwerderechte der Asylsuchenden gefährdet, sondern ihre vulnerable Situation und ihre Bedürfnisse vernachlässigt.

Ungenügende Qualitätskontrolle

Das Staatssekretariat für Migration befolgt beim Verfassen von Asylentscheiden grundsätzlich das Vier-Augen-Prinzip. Regional bestehen weitere Konzepte zur Qualitätskontrolle. Etwa sogenannte Focal Points – die Ernennung einer Ansprechperson für bestimmte asylrechtliche oder länderspezifische Themen –, die Analysen von Urteilen des Bundesverwaltungsgerichts oder Fallbesprechungen.

Das Schweizerische Kompetenzzentrum für Menschenrechte hat in seiner Evaluation in vierzig von 120 untersuchten Einzelfalldossiers – teilweise gravierende – Mängel festgestellt. So etwa ungenügende Sachverhaltsabklärung, ungenügende Würdigung der Stellungnahme zum Entscheidentwurf, unzutreffende Rechtsanwendung und mangelhafte Begründungsqualität. Die offenkundigen Fehler im Dispositiv an Asylentscheiden machen deutlich, dass der interne Prüfungsmechanismus des Vier-Augen-Prinzips nicht lückenlos funktioniert und mit einer zu hohen Fehlerquote behaftet ist.

Nicht zuletzt existiert gemäss der SKMR-Studie eine von der Zentrale in Bern vorgegebene 80 Prozent-Zielsetzung. Während in einer Region dieses Ziel so verstanden wird, dass 80 Prozent der Fristen im beschleunigten Verfahren einzuhalten sind, wird die Zielvorgabe in einer anderen Region so aufgefasst, dass die einzelnen Mitarbeitenden 80 Prozent der Fälle im beschleunigten Verfahren erledigen müssen. Letztere Interpretation lässt auf einen hohen Erwartungsdruck schliessen. Das ist für die Qualitätssicherung alles andere als förderlich und widerspricht den Anforderungen an die Verfahrenszuweisung bei komplexen Fällen.

Forderungen der Zivilgesellschaft

Das neue Asylverfahren hat sich in den zwei Jahren seit seiner Einführung verbessert. Es bestehen jedoch folgenschwere Mängel, die es zugunsten der asylsuchenden Personen und zur Wahrung eines fairen, rechtsstaatlichen Asylverfahrens zu beheben gilt.

Das Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich fordert, dass das beschleunigte Asylverfahren nur noch in Fällen angewendet wird, die offensichtlich zu einem positiven Asylentscheid oder einer vorläufigen Aufnahme führen. Es brauche ausführliche, auf Verstehen ausgerichtete Anhörungen der asylsuchenden Personen und keine Einschränkungen bei medizinischen Abklärungen und Behandlungen. Zudem müsse sich das Kriterium der Aussichtslosigkeit nach dem Grundsatz «Im Zweifel für die Beschwerde» richten. Die Sachverhaltsabklärung und Entscheidqualität seien einem Monitoring zu unterziehen, um Fehlentscheide auf ein Minimum zu beschränken. Handwechsel während des Asylverfahrens seien zu vermeiden.

Einen Hauptkritikpunkt bilden weiter die kurzen Verfahrens- und Beschwerdefristen: Die Frist für die Eingabe einer Stellungnahme müsse auf zehn Tage, die Beschwerdefrist in allen Asylgesuchen auf die üblichen dreissig Tage erweitert werden. Die Fristerstreckungsgesuche seien vom Staatssekretariat für Migration entsprechend kulant zu handhaben.

Vonseiten der Zivilgesellschaft wird zudem darauf hingewiesen, dass einige zentrale Aspekte in der Evaluation des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte nicht untersucht worden sind – namentlich die Erkennung und Behandlung besonders vulnerabler asylsuchender Menschen, die Umsetzung des Dublin-Verfahrens und die Umsetzung des erweiterten Asylverfahrens. Weiter seien im Rahmen der Evaluation keine Betroffenen befragt worden, wodurch die Evaluation unvollständig sei. Bei einer nächsten Evaluation müssten alle Verfahrensarten und die Asylsuchenden selbst miteinbezogen werden.

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