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EGMR: Wie kann man eine Beschwerde einreichen?

28.02.2022

Zulassungskriterien

Die Zulassung von Individualbeschwerden an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ist an eine ganze Reihe von Kriterien geknüpft, die in Artikel 34 und 35 der EMRK niedergelegt sind. Viele Beschwerden werden zurückgewiesen, weil sie ungenau abgefasst sind und aus ihnen nicht hervorgeht, ob sie die Zulassungskriterien erfüllen.

  • Zeitlicher Geltungsbereich:
    Die EMRK bindet die Staaten erst ab ihrem Beitritt. Die Schweiz kann also nicht verantwortlich gemacht werden für Ereignisse, die sich vor dem 28. November 1974 zugetragen haben.
  • Anfechtungsobjekt:
    Es muss ein Rechts- oder Realakt eines Staates vorliegen, der die EMRK ratifiziert hat. Handlungen des Nachbars oder der Arbeitgeberin z.B. sind untaugliche Anfechtungsobjekte, wohl aber die meisten Akte einer Behörde.
  • Beschwerdegrund:
    Durch diesen Rechts- oder Realakt muss ein von der EMRK ausdrücklich garantiertes Recht verletzt worden sein (Artikel 2–14, eventuell auch Zusatzprotokolle, falls sie vom fraglichen Staat ratifiziert worden sind). Die einzelnen Garantien der EMRK werden vom EGMR zwar zum Teil sehr weit ausgelegt, aber längst nicht jeder als ungerecht empfundene staatliche Akt erfüllt dieses Kriterium. Seit dem 14. ZP hat der Gerichtshof zudem die Möglichkeit, eine Beschwerde abzuweisen, wenn die beschwerdeführende Person keinen «erheblichen Nachteil» erlitten hat. Mit dem 15. ZP darf der EGMR Fälle «ohne erheblichen Nachteil» sogar dann zurückweisen, wenn sie nicht ordentlich von nationalen Gerichten geprüft wurden. 
  • Persönliche Eigenschaften:
    Eine Individualbeschwerde ist natürlichen Personen oder Organisation des privaten Rechts vorbehalten, die persönlich und unmittelbar in ihren EMRK-Rechten verletzt wurden. Es ist also nicht möglich, eine rechtliche Bestimmung ohne konkreten Anwendungsfall zu rügen. 
  • Subsidiarität:
    Zuerst muss der innerstaatliche Rechtsweg ausgeschöpft werden. In der Schweiz ist dies in aller Regel erst mit einem Urteil des Bundesgerichtes der Fall.
  • Frist:
    Die Beschwerde muss innerhalb von 4 Monaten seit dem letztinstanzlichen innerstaatlichen Entscheid ergriffen werden. Verspätete Beschwerden werden abgewiesen.
  • Form und Inhalt der Beschwerde:
    Die Beschwerde muss schriftlich sein und darf nicht anonym erfolgen. Sollte die Beschwerde vorab per Fax oder E-Mail an den Gerichtshof versandt worden sein, muss eine Bestätigung auf dem gewöhnlichen Postweg folgen. Es ist in gedrängter Form der Sachverhalt darzustellen sowie darzulegen, inwiefern dadurch EMRK-Rechte verletzt worden sind. Die Beschwerdeschrift kann grundsätzlich in jeder Sprache des Europarates verfasst werden. Im späteren Verfahren herrscht jedoch Anwaltszwang, und es sind nur noch Englisch oder Französisch zulässig.
  • Rechtsfolge:
    Ist die Beschwerde erfolgreich, so stellt der EGMR die Verletzung fest, überlässt es jedoch dem Staat, auf welche Weise er die Verletzung wieder gut machen will (restitutio in integrum). Ist dies nicht möglich, kann der EGMR auch eine finanzielle Entschädigung sprechen, die allerdings meistens erheblich unter den Erwartungen der Beschwerdeführer zurückbleibt. In der Schweiz kann unter den Voraussetzungen von Art. 122 Bundesgesetz über das Bundesgericht (BGG) ein bundesgerichtliches Urteil revidiert werden.

Weitere Hinweise zur Beschwerdeerhebung

  • Anonymisierung
    Alle Dokumente im Zusammenhang einer Beschwerde sind öffentlich; Entscheide und Urteile werden vom EGMR publiziert. Beschwerdeführende haben allerdings die Möglichkeit, die Anonymisierung der Angaben zu ihrer Person zu beantragen. Dies sollte möglichst bereits bei der Beschwerdeeinreichung verlangt werden, kann aber auch in einem späteren Zeitpunkt noch beantragt werden. Falls der Anonymisierung zugestimmt wird, kann bestimmt werden, ob lediglich die Anfangsbuchstaben des Namens oder einzelne Buchstaben (z.B. «X», «Y», «Z» etc.) anstelle des Namens öffentlich gemacht werden (siehe Verfahrensregeln des EGMR «Rules of Court» vom 1. Juli 2014, S. 55 und S. 64).
  • Vorläufige Massnahmen
    In besonderen Fällen können beim EGMR vorläufige Massnahmen («interim measures») beantragt werden (gestützt auf Regel 39 der «Rules of Court» des EGMR). Der EGMR wird, wenn die Gefahr eines nicht wiedergutzumachenden Nachteils besteht, vom Mitgliedsstaat verlangen, gewisse Massnahmen zur ergreifen bzw. zu unterlassen. Dies kann z.B. bei drohender Ausweisung von Asylsuchenden, drohender Auslieferung eines*einer Straftäter*in oder etwa auch bei bevorstehender Rückführung eines Kindes zu einem im Ausland lebenden Elternteil der Fall sein (siehe zur Praxis des EGMR in: Factsheet - Interims measures vom Januar 2013, S. 2 ff.). Vorläufige Massnahmen müssen sobald als möglich mit einem gut begründeten und mit allen erforderlichen Belegen ergänzten Gesuch verlangt werden. Dabei muss ebenfalls dargelegt werden, dass alle innerstaatlichen Möglichkeiten, den Vollzug der drohenden Massnahme zu stoppen, ausgeschöpft worden sind. Das Gesuch um vorläufige Massnahmen wird am besten direkt an den Gerichtshof gefaxt (+33 (0)3 88 41 39 00), damit die Dringlichkeit auch wirklich erkannt wird und das Gesuch nicht liegen bleibt.

    Dokumentation

    Beschwerde einreichen

    Die Regeln zur Einreichung einer Beschwerde wurden per 1. Jan. 2016 leicht verändert. In der folgenden aktualisierten Dokumentation finden sich alle relevanten Dokumente zur Einreichung einer Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in deutscher Sprache, insbesondere das Beschwerdeformular, der Leitfaden zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen und die Unterlagen für ein Gesuch um vorläufige Massnahmen:

    Anonymisierung

    Weitere Sprachen