08.03.2023
Umweltaktivist*innen der Lausanner Gruppe «Climate Action» hatten beim Bundesgericht Beschwerde gegen die Verurteilung ihrer Protestaktion eingelegt. Der Fall ist ein gutes Beispiel für einen strategischen Prozess: Die höchste Schweizer Instanz musste darüber befinden, inwiefern der Klimanotstand rechtswidrige Handlungen legitimieren kann.
Im November 2018 inszenierten Umweltaktivist*innen in einer Credit Suisse Filiale im Kanton Waadt einen Tennismatch. Die skurrile Szene war eine Herausforderung an Roger Federer, das Aushängeschild der Bank. Die Gruppe demonstrierte mit ihrer Aktion gegen die gross angelegten Investitionen des Finanzkonzerns in fossile Brennstoffe und deren damit verbundenen Mittäterschaft bei der globalen Klimaerwärmung. Der Match konnte jedoch nicht zu Ende gespielt werden, nach einer Stunde wurde die verkleidete Gruppe von der Polizei gewaltsam aus dem Gebäude geschafft. Die Credit Suisse erstattete Anzeige wegen Hausfriedensbruchs gegen zwölf Aktivist*innen. Die Weigerung der Gruppe, den Strafbefehl anzuerkennen, ist die Grundlage für diesen Prozess.
Am 15. Februar 2020 wurde der Prozess gegen die zwölf Demonstrant*innen vor dem Polizeigericht in Lausanne eröffnet. Die pro bono arbeitenden Anwält*innen argumentierten, dass die Aktivist*innen aus einer rechtmässigen Notlage heraus gehandelt hätten. Eine Notlage rechtfertigt eine normalerweise strafbare Handlung, solange diese Handlung die einzige Möglichkeit darstellt, die Gefahr und einen Schaden abzuwenden. Zahlreiche Wissenschaftler*innen und Klimaspezialist*innen traten im Gerichtssaal auf und untermauerten diese Argumentation.
Nach der mehrtägigen Anhörung kam die Sensation: das Gericht anerkannte den Klimanotstand als legitimen juristischen Notstand an und sprach die zwölf Aktivist*innen frei. Das Urteil schlug grosse Wellen, die sogar internationale Medien auf den Plan riefen. Im Zuge der zeitgleich lancierten Kampagne #RogerWakeUpNow nahm sogar Greta Thunberg, die Gallionsfigur der Klimabewegung, Roger Federer ins Visier. Weltweit Kritik ausgesetzt, reagierte der Tennisprofi und versprach, sich bei seinen Sponsoren für das Klima einzusetzen. Die Waadtländer Staatsanwaltschaft jedoch hatte wenig Freude am Urteil und legte Berufung ein.
Im September 2020 revidierte das Waadtländer Berufungsgericht das Urteil aus erster Instanz und verurteilte die Klimaaktivist*innen. Die Richter*innen anerkannten zwar die Wichtigkeit und Dringlichkeit der Gefahr, die von der globalen Erwärmung ausgeht. Sie vertraten jedoch die Ansicht, dass sich die Schweizer Behörden dem Klimawandel bereits annehmen würden und dass die Aktion in der Bankfiliale nicht geeignet gewesen sei, die Folgen der globalen Erwärmung zu reduzieren oder zu stoppen. Das Gericht beanstandete weiter, dass die Aktivist*innen die Investitionen der Credit Suisse auch auf legale Weise hätten anprangern können. Die Angeklagten wurden zu einer bedingten Geldstrafe von 10 und 20 Tagessätzen von 20 Franken sowie zu Geldstrafen von 100 bis 150 Franken verurteilt und müssen die Gerichtskosten bezahlen.
Im November 2020 legten die Aktivist*innen beim Bundesgericht Rekurs gegen das Urteil des Waadtländer Berufungsgerichts ein. Doch rund sieben Monate später, im Mai 2021, bestätigte die höchste Schweizer Instanz die Verurteilung der Lausanner Klimaaktivist*innen und wies den Grossteil der Beschwerde ab. Die Richter*innen liessen das Argument des Notstands, der die Aktivist*innen vor einer Verurteilung geschützt hätte, nicht gelten. Sie schätzten den Klimawandel nicht als «unmittelbare Gefahr» für die Demonstrierenden ein. Zudem sei der rechtmässige Notstand nicht auf die Verteidigung kollektiver Rechtsgüter wie Umwelt oder Gesundheit anwendbar, argumentierten die Richter*innen. Nach Ansicht des Bundesgerichts ist die angeführte Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht anwendbar, da sie sich auf die Meinungs- und Versammlungsfreiheit auf öffentlichem Grund beziehe; die Räumlichkeiten der Credit Suisse seien zwar öffentlich zugänglich, aber kein Raum, der für eine grosse Anzahl von Menschen bestimmt sei. Das Bundesgericht nahm die Beschwerde der Aktivist*innen jedoch in mehreren Punkten an, nämlich wegen der Verhinderung einer Amtshandlung und der Verletzung von Art. 29 des Polizeireglements der Gemeinde Lausanne.
Am 13. Februar 2023 bestätigte das Bundesgericht erneut die Verurteilung der zwölf Aktivist*innen wegen Hausfriedensbruchs. Enttäuscht monierten Anwält*innen und Aktivist*innen, dass die Schweizer Behörden weiterhin die Augen vor der Klimafrage verschliessen. Sie zeigten sich entschlossen, die Schweizer Justiz vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vom dringenden Handel gegen den Klimawandels zu überzeugen. Bereits im November 2021 hatten sie dort eine Beschwerde eingereicht.
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