27.11.2024
Das Verwaltungsgericht Bern kommt im März 2023 zum Schluss, dass die Universität Bern weder gegen das Diskriminierungsverbot noch gegen die Chancengleichheit verstosse, wenn sie einer Person mit Dyslexie und Dysorthographie keinen Zeitzuschlag beim Eignungstest für das Veterinärmedizinstudium gewährt. Das Bundesgericht hingegen weist anfangs Mai 2024 die Beschwerde an das Verwaltungsgericht zur Neubeurteilung zurück.
M.V. leidet an Dyslexie und Dysorthographie. Sie beantragt 2021 für den Eignungstest (EMS) für das Veterinärmedizinstudium einen Nachteilsausgleich in Form eines Zeitzuschlages. Dies lehnt die Universität Bern am 6. Juli 2021 ab, gewährt ihr aber einen Randplatz im Testraum. Nach dem Test am 9. Juli 2021 kann sich M.V. aufgrund ihrer Ergebnisse nicht für das Veterinärmedizinstudium qualifizieren. Ihre Beschwerde gegen den Ausschlussentscheid wird am 15. Februar 2022 von der Direktion für Bildung und Kultur des Kantons Bern abgewiesen. Mithilfe von Inclusion Handicap, dem Dachverband der Behindertenorganisationen in der Schweiz, zieht M.V. die Beschwerde am 18. März 2022 an das Verwaltungsgericht des Kantons Bern weiter.
Das Verwaltungsgericht kommt mit seinem Urteil vom 30. März 2023 zum Schluss, dass der Entscheid der Universität Bern weder gegen das Diskriminierungsverbot noch das Recht auf Chancengleichheit für Menschen mit Behinderungen verstosse.
V.M. zieht die Beschwerde am 19. Mai 2023 an das Bundesgericht weiter. Nach einer hitzigen Debatte kommt das Bundesgericht ein Jahr später mit drei zu zwei Stimmen zum Ergebnis, dass die Verweigerung eines Zeitzuschlages eine Diskriminierung im Sinne von Art. 8 Abs. 2 der Bundesverfassung (BV) darstelle und die Sache wird ans Verwaltungsgericht des Kantons Bern zurückgewiesen.
Recht auf Bildung auf der Grundlage der Chancengleichheit
Durch die Ratifikation des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (BRK) hat sich die Schweiz verpflichtet, Hindernisse zu beseitigen, denen Menschen mit Behinderungen begegnen, sie vor Diskriminierung zu schützen und ihre gesellschaftliche Inklusion sowie Gleichberechtigung zu fördern.
Art. 24 Abs. 1 BRK greift das Recht auf Bildung explizit auf. Danach verpflichten sich die Vertragsstaaten, das Bildungsrecht von Menschen mit Behinderungen anzuerkennen und umzusetzen. Sie sorgen dafür, dass auf allen Bildungsebenen ein inklusives und diskriminierungsfreies System geschaffen wird, das gleiche Chancen bietet und lebenslanges Lernen fördert. Insbesondere sind sie gemäss Art. 24 Abs. 5 BRK verpflichtet, Menschen mit Behinderungen den Zugang zum Bildungssystem zu ermöglichen und – falls erforderlich – geeignete Massnahmen zu ergreifen, um dieses Ziel zu erreichen.
Die rechtliche Grundlage für den Anspruch auf Nachteilsausgleich ist in Art. 8 Abs. 2 BV verankert. Dieser Artikel fordert die Gleichbehandlung aller und verbietet insbesondere Diskriminierung aufgrund einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.
Das Behindertengleichstellungsgesetz (BehiG) präzisiert: Eine Benachteiligung liegt vor, wenn Menschen mit Behinderung ohne sachlichen Grund anders und dadurch schlechter behandelt werden als Nichtbehinderte oder wenn notwendige Differenzierungen fehlen, die eine tatsächliche Gleichstellung ermöglichen (BehiG Art. 2 Abs. 2).
Der Nachteilsausgleich soll somit behinderungsbedingte Nachteile ausgleichen und ist gemäss Art. 2 Abs. 5 BehiG spezifisch in Aus- und Weiterbildungen relevant. Hier besteht eine Benachteiligung, wenn behindertenspezifische Hilfsmittel erschwert zugänglich sind oder wenn Lehrpläne, Prüfungen und Angebote nicht an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen angepasst sind. Somit sind die Hochschulen rechtlich verpflichtet, so weit wie möglich gleiche Prüfungsbedingungen für alle Kandidaten und Kandidatinnen zu gewährleisten.
Dabei muss berücksichtigt werden, dass die Prüfungsleistung die tatsächlichen Fähigkeiten eines jeden Kandidaten und einer jeden Kandidatin widerspiegelt. Dies gilt auch im Kontext von Menschen mit Behinderungen, die Anspruch auf angepasste Prüfungsbedingungen haben, um eine faire Bewertung ihrer Fähigkeiten zu ermöglichen. Dies könnte beispielsweise in Form einer Verlängerung der Prüfungsdauer geschehen, wenn die Behinderung die Bearbeitungsgeschwindigkeit beeinflusst. Allerdings darf eine solche Anpassung nicht die zentrale Zielsetzung der Prüfung gefährden, insbesondere wenn die Prüfung Fähigkeiten testet, die für die Ausbildung oder den angestrebten Beruf essenziell sind.
Nachteilsausgleich bei Dyslexie-Dysorthographie
In Fällen wie der Dyslexie-Dysorthographie, die die Lese- und Schreibfähigkeiten beeinträchtigt, können angepasste Prüfungsbedingungen gerechtfertigt sein. Die internationale Klassifikation ICD-10 anerkennt diese Lernstörung als spezifische Beeinträchtigung, die unter Art. 8 Abs. 2 BV fällt. Dementsprechend hätte die Beschwerdeführerin grundsätzlich Anspruch auf angemessene Massnahmen, die ihre Beeinträchtigung berücksichtigen, wie z.B. durch das Einlegen häufiger Pausen oder die Möglichkeit Verständnisfragen zu stellen. Gemäss dem Verwaltungsgericht gewährte die Universität Bern eine solche Massnahme durch einen Randplatz im Prüfungssaal. Die Beschwerdeführerin forderte allerdings eine um ein Drittel verlängerte Bearbeitungszeit als Ausgleichsmassnahme.
Debatte um die beantragte Zeitverlängerung
Dieser Antrag auf verlängerte Bearbeitungszeit wurde von der Universität Bern abgelehnt und schliesslich durch das Verwaltungsgericht mit folgender Begründung bestätigt:
«Der EMS-Test ist nicht als herkömmliche Wissensprüfung konzipiert, sondern als Eignungstest, welcher kein Wissen abfragt, vielmehr wird das kognitive Potenzial und die Fähigkeit der Kandidaten bewertet, sich neues Wissen anzueignen. Der Test ist streng zeitlich geregelt und misst auch die Fähigkeit, unter Druck schnell zu arbeiten. Daher führt eine Verlängerung der Bearbeitungszeit, wie sie von der Beschwerdeführerin gefordert wurde, zu einer grundlegenden Veränderung des Testcharakters und würde die Vergleichbarkeit der Ergebnisse gefährden. Ausserdem sei es unmöglich, objektiv festzulegen, welche Zeitverlängerung einen Nachteil wirksam ausgleichen könnte. Dies könnte zur Gefahr einer Überkompensation führen, welche dadurch die Chance einer Zulassung für andere vereitelt.»
Weiter führte das Gericht aus, dass «obwohl das Verbot der Diskriminierung verlangt, in Ausnahmefällen auf individuelle Bedürfnisse einzugehen, gewährt dies der Beschwerdeführerin nicht automatisch ein Recht auf eine Zeitverlängerung.» Der verlangte Zeitaufschub würde eine zentrale Fähigkeit des Tests – die Bearbeitungsgeschwindigkeit – betreffen, die auch von Personen mit Dyslexie erwartet werden kann. Der Staat sei nicht verpflichtet, alle Nachteile durch Lebensumstände zu kompensieren, insbesondere wenn dies die Kernkompetenzen beeinflusst, die in der Prüfung gemessen werden. Daher wäre der Antrag der Beschwerdeführerin auf Zeitverlängerung zurecht abgelehnt worden.
Anders sieht dies das Bundesgericht, welches zum Schluss kommt, dass diese Form des Nachteilsausgleichs keine Überkompensation oder Übervorteilung bedeute. Im Gegenteil: Die Fähigkeit, unter Zeitdruck und Stress schnell eine Lösung für eine Aufgabe zu finden, werde durch die Lese- und Schreibschwäche in keiner Weise eingeschränkt. Indem sich die Universität weigere, allein aus Angst vor einer Überkompensation gleiche Ausgangsbedingungen zu schaffen, würde es zu einer systematischen Ausgrenzung einer ganzen Bevölkerungsgruppe vom Medizinstudium führen. Dies sei inakzeptabel.
Dyslexie und das Recht auf Nachteilsausgleich durch Medienberichte thematisiert
Mit diesem Urteil hat sich bei der Zulassung für das Medizinstudium noch nichts verändert. Und es geht nur um die besonderen Eignungstests. Bei normalen Prüfungen im Studium wird Betroffenen der Nachteilsausgleich bereits gewährt.
Dennoch ist dieses Urteil mehr als ein Etappensieg. Zum ersten Mal überhaupt wurde die Urteilsberatung am Bundesgericht in die Gebärdensprache übersetzt. Dank vieler Medienberichte sind M.V. und das Handicap Dyslexie breit thematisiert worden. VM meint dazu: «Ich bin erleichtert und froh, dass ich das alles miterleben durfte. Es ist das erste Mal, dass ich wirklich das Gefühl habe, dass meine Argumente gehört werden und dass meine Stimme ein bisschen weiterträgt, als es bisher der Fall war.»
Es ist einer der ersten grossen Fälle, mit denen Inclusion Handicap und seine Mitgliederorganisationen Urteile erwirken wollen, mit denen die Lebensumstände betroffener Personen verbessert werden sollen. Die Rechnung ist aufgegangen. Weitere strategische Prozesse werden folgen.
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