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Sozialrechte als Menschenrechte - Dossier

Die rechtliche Auslegung der Sozialrechte

29.04.2024

Seit die UNO-Generalversammlung im Jahr 1948 die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte verabschiedete, scheiden sich die Geister an der Frage, inwiefern sich der rechtliche Status der sogenannten klassischen Freiheitsrechte von jenem der Sozialrechte unterscheidet. Nichtsdestotrotz gehört die Doktrin, wonach Sozialrechte keine subjektiven Menschenrechte seien, in der Zwischenzeit der Vergangenheit an. So betonten die Mitgliedstaaten der UNO in der Wiener Erklärung und Aktionsprogramm vom 25. Juni 1993, dass die Menschenrechte unteilbar sind und sich gegenseitig stärken.

Politisch motiviertes Dogma

Mit der pauschalen Ablehnung der Einklagbarkeit (Justiziabilität) der WSK-Rechte hält sich das Bundesgericht stur an die Botschaft des Bundesrats zur Ratifizierung des UNO-Pakts über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte aus dem Jahr 1991, worin behauptet wurde, die WSK-Rechte hätten generell bloss programmatischen Charakter und würden sich nicht an Individuen, sondern nur an den Gesetzgeber richten. Deshalb seien sie von Einzelpersonen vor Gericht nicht einklagbar (vgl. BBI 1991 I 1202). Diese Einschätzung des Bundesrats sollte damals wohl dem zu erwartenden politischen Widerständen gegen die Ratifizierung den Wind aus den Segeln nehmen. Dies ist zwar gelungen; gleichzeitig hat sich die allzu pauschale Ablehnung der Justiziabilität der Sozialrechte zum irrationalen Dogma verfestigt. Letzteres ist im Laufe der Jahre zunehmend aufgeweicht worden.

… das sich jedoch tendenziell lockert

In seiner Botschaft ans Parlament vom 19. Dezember 2012 zur Behindertenrechtskonvention (S. 674) vertrat der Bundesrat erstmals eine weniger strikte Haltung in Bezug auf die Einklagbarkeit von sozialen Rechten an einem Schweizer Gericht. Zudem verwendete der Bundesrat in derselben Botschaft erstmals in diesem Zusammenhang die Typologie der drei Arten von staatlichen Pflichten und akzeptierte implizit, dass die Achtungspflichten und die Schutzpflichten direkt anwendbar und einklagbar sind, sofern dies keine Gesetzesänderung zur Folge hat. Gemäss Florentin Weibel, welcher in Zusammenarbeit mit der Organisation FIAN eine Masterarbeit zum Thema Justiziabilität der WSK-Rechte in der Schweiz erarbeitete, hat der Bundesrat « einen ersten Schritt aus der Sackgasse getan, indem er die drei Arten von staatlichen Pflichten auf die aus Pakt I resultierenden Pflichten anwendet » (S. 27).

Justiziable und nichtjustiziable Anteile

Es ist allgemein anerkannt, dass die Sozialrechte zwei Achsen haben. Einerseits bringen sie Verpflichtungen für Staaten mit sich, welche Individuen einklagen können. Andererseits sind sie programmatischer Natur. Gemäss Art. 2 des UNO-Pakts über soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte müssen die Staaten progressiv daran arbeiten, die Sozialrechte zu verwirklichen. Zudem haben die Staaten die Pflicht, sowohl die bürgerlichen und politischen Rechte als auch die Sozialrechte zu achten, zu schützen und zu gewährleisten.

Der UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte begründet also bestimmte unmittelbare, justiziable Achtungs- und Schutzpflichten für die Vertragsstaaten. Selbst im Hinblick auf gewisse Teilgehalte der Gewährleistungspflichten haben auch die WSK-Rechte eine unmittelbare, gerichtlich einklagbare Rechtsbedeutung. Es handelt sich dabei insbesondere um die Pflicht, sofortige Massnahmen zu ergreifen, um die garantierten Rechte vollständig zu realisieren. Diese Massnahmen müssen konkret, angemessen und gezielt sein. Der UNO-Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte erachtet unter anderem folgende Teilgehalte von Gewährleistungspflichten als justiziabel: Minimale Ansprüche auf Überlebenssicherung (z. B. Nahrung, Kleidung und Unterkunft), Leistungsansprüche in Situationen umfassender staatlicher Kontrolle über eine Person (z. B. im Freiheitsentzug), Diskriminierungsschutz in Bezug auf den Zugang zu staatlichen Leistungen.

Zudem kann die Einklagbarkeit eines Rechts mit dem Prinzip der Nicht-Regression, gemäss welchem eine Absenkung des bestehenden Schutzniveaus untersagt ist, gerechtfertigt werden. So könnte beispielsweise eine Privatperson, deren Sozialleistungen gekürzt werden sollen, das Recht auf soziale Sicherheit einklagen.

Beispiele für einklagbare und nicht einklagbare Anteile von Staatenpflichten finden sich in den folgenden Portraits zu sozialen Menschenrechten:

    Internationaler Druck steigt

    Obwohl eine eigentliche Praxisänderung hin zu einer differenzierten Wahrnehmung der justiziablen Teilgehalte der WSK-Rechte kurz- und mittelfristig als unwahrscheinlich gilt, regt die aktuelle Stossrichtung, ohne sie zu überschätzen, zum Denken an. Ebenfalls interessant ist eine Studie des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte von 2013. Die Studie empfiehlt dem Bundesrat, sich vor dem Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte von seiner traditionellen Argumentation, also dem einzig programmatorischen Charakter der WSK-Rechte, zu verabschieden, um stattdessen vermehrt den Umstand in den Vordergrund zu rücken, dass die Schweiz die grosse Mehrheit der Verpflichtungen aus dem Pakt I erfüllt, insbesondere auf der Ebene des kantonalen Rechts. Der Bundesrat lehnt die Ratifizierung des Zusatzprotokolls zum Pakt I nach wie vor ab. Da es nicht völlig ausgeschlossen ist, dass der UNO-Ausschuss, der die Umsetzung des Pakts I überwacht, auch Beschwerden über die Verletzung von Bestimmungen prüft, die nach schweizerischem Rechtsverständnis programmatischen Charakter haben, würde der Pakt in seiner Tragweite weit über die ursprünglichen Absichten des Bundesrats und des Parlaments zum Zeitpunkt der Ratifizierung hinausgehen.

    Dies ist um so weniger nachvollziehbar, als die Position der Schweiz nicht nur von der helvetischen Rechtsdogmatik kritisiert wird, sondern zum ersten Mal bereits im Jahre 1998 vom Ausschuss für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte in seinen Concluding Observations zum ersten Staatenbericht der Schweiz als unzutreffend gerügt wurde. In den abschliessenden Bemerkungen zum zweiten Berichtszyklus vom 19. November 2010 empfiehlt dann der Ausschuss der Schweiz dringend, «einen wirksamen Mechanismus zu etablieren, um die Kompatibilität des Landesrechts mit dem Pakt sicherzustellen und bei Verstössen gegen die im Pakt verankerten Rechte wirksame Rechtsmittel vorzusehen».

    Im Jahr 2022 bedauerte der Ausschuss erneut die geringen Fortschritte, die die Schweiz bei der Umsetzung ihrer dringenden Empfehlungen gemacht hatte. Nach Ansicht der Zivilgesellschaft zeigt der vom Bund vorgelegte Schnellbericht, wie wenig die Schweiz ihre internationalen Verpflichtungen im Bereich der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte beachtet.


    Dokumentation