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Mangelhafte Finanzierung des interkulturellen Dolmetschens: ein Grund für die psychiatrische Unterversorgung von traumatisierten Flüchtlingen

24.05.2016

Viele Flüchtlinge sind von dem in der Heimat und auf der Flucht Erlebten traumatisiert und benötigen dringend psychiatrische Hilfe. Dank dem Einsatz von qualifizierten interkulturell Dolmetschenden und Vermittelnden wird das Verstehen über sprachlich-kulturelle Hürden hinweg erleichtert. Und dies ist in der Psychiatrie entscheidend, denn Psychotherapie funktioniert vor allem über die Sprache. Die Bedeutung und Notwendigkeit des interkulturellen Dolmetschens ist anerkannt, aber die Finanzierung des Einsatzes von Dolmetschenden bei psychiatrischen Therapien ist nicht geregelt. Dies trägt mit dazu bei, dass in der Schweiz mehrere hundert Therapieplätze fehlen und psychisch kranke Flüchtlinge oft Monate oder Jahre auf eine adäquate Behandlung warten müssen.

Rechtsanspruch auf interkulturelles Dolmetschen?

Ausserhalb von Gerichtsverfahren fehlt im geltenden Schweizer Recht ein direkter Anspruch auf Übersetzungsleistungen des Staates. Insbesondere kennt die Schweiz kein eigenständiges Grundrecht auf Übersetzung für Patienten/-innen im Gesundheitsbereich. Immerhin lässt sich aus dem spezifischen Recht auf hinreichende Aufklärung und Einwilligung im Vorfeld eines medizinischen Eingriffs, welches in kantonalen Gesundheitsgesetzgebungen verankert ist, für diese spezifische Konstellation ein Recht auf Übersetzung ableiten.

Gemäss einer Studie des Bundesamtes für Gesundheit lassen sich weitergehende Ansprüche auf Übersetzungsleistungen des Staates im medizinischen Bereich aus Art. 12 des UNO-Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, dem Recht auf Gesundheit, ableiten. Niemandem darf infolge mangelnder Sprachkenntnisse eine medizinisch indizierte Behandlung vorenthalten bleiben. Sämtliche gesundheitsrelevanten Informationen müssen für den Patienten oder die Patientin in einer verständlichen Sprache abrufbar sein (vgl. dazu unseren Artikel «Recht auf Übersetzung im Gesundheitsbereich»).

Theoretisch wäre die Schweiz also verpflichtet, für unentgeltliche Dolmetscherdienste in allen Spitälern oder anderen Gesundheitseinrichtungen zu sorgen. Doch die im UNO-Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte garantierten Rechte sind in der Schweiz nicht direkt einklagbar. Das Bundesgericht vertritt die Auffassung, die Garantien dieses Vertrages würden in der Schweiz nur einen Auftrag an den Gesetzgeber und keine subjektiven, einklagbaren Rechte begründen.

Zur Festschreibung eines durchsetzbaren Rechts auf Gesundheit in der Bundesverfassung fehlt auf Bundesebene ein politischer und juristischer Konsens (siehe dazu unseren Artikel «Ablehnung der Justiziabilität der Sozialrechte in der Schweiz»).

Von der Krankenversicherung nicht abgedeckt

Mit einem entsprechenden politischen Willen bestünde die Möglichkeit, das interkulturelle Dolmetschen bei Therapien durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) vergüten zu lassen. Die OKP übernimmt Leistungen, die der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen. Zur Krankheitsbehandlung gehören einzig Massnahmen mit diagnostischem, therapeutischem oder pflegerischem Charakter. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung (siehe Urteil von 31. Dezember 2002) handelt es sich bei den Übersetzungen durch Dolmetschende nicht um medizinische Leistungen, weshalb eine Finanzierung durch das KVG derzeit ausgeschlossen ist. Doch bereits eine Änderung der entsprechenden Verordnung zum Krankenversicherungsgesetz könnte dieses Hindernis aus dem Weg räumen.

Im Parlament wurde das Recht auf Übersetzung im Gesundheitsbereich und auch die Frage nach der Verfügbarkeit einer ausreichenden Übersetzungsinfrastruktur bereits zweimal diskutiert. Dies aus Anlass einer parlamentarischen Initiative vom Jahre 2006 und einer Motion von Luc Recordon aus dem Jahr 2008. Beide Vorstösse hatten keinen Erfolg.

Ungenügende Patchwork-Finanzierung

Bund und Kantone leisten im Rahmen ihrer jeweiligen Kompetenzen finanzielle Beiträge zur Förderung des interkulturellen Dolmetschens. So ist das interkulturelle Dolmetschen ein Schwerpunkt des Nationalen Programms Migration und Gesundheit. Finanziell unterstützt werden das nationale Kompetenzzentrum INTERPRET für Qualitätssicherung und Öffentlichkeitsarbeit im Bereich interkulturelles Dolmetschen vor Ort oder per Telefon, der nationale Telefondolmetschdienst sowie diverse Weiterbildungsangebote. Zahlreiche vom BAG in Auftrag gegebene Studien beleuchten weitere qualitative, rechtliche und finanzielle Aspekte des interkulturellen Dolmetschens.

Seit Januar 2014 ist das interkulturelle Dolmetschen zudem auch fester Bestandteil der Kantonalen Integrationsprogramme (KIP). Die Kantone müssen aufzeigen, wie sie ein qualitativ hochstehendes Angebot in diesem Bereich sicherstellen. So werden u.a. finanzielle Beiträge an Institutionen ausgerichtet werden, welche sich für qualifiziertes interkulturelles Dolmetschen einsetzen (z.B. «comprendi?» - Fachstelle für qualifiziertes interkulturelles Dolmetschen im Kanton Bern, «AOZ Medios» - Interkulturelles Dolmetschen Stadt und Kanton Zürich). Die Beiträge der Integrationsförderung sind daher für die Qualitätssicherung bestimmt. In einzelnen Kantonen wird die Finanzierung des interkulturellen Dolmetschens in Spitälern im Leistungsvertrag mit der kantonalen Gesundheitsdirektion geregelt (so etwa in den Kantonen Zug, Zürich, Waadt, Uri, Bern und Solothurn).

Der Geschäftsleiter der Fachorganisation INTERPRET, Michael Müller, plädiert für eine nationale Regelung der Finanzierung des interkulturellen Dolmetschens, damit die Ungerechtigkeiten der Patchwork-Finanzierung behoben werden können. Auf Anfrage von humanrights.ch spricht er sich dafür aus, «dass die Finanzierung von Dolmetschleistungen als zwar nicht medizinische, aber dennoch unabdingbare Zusatzleistung via die obligatorische Krankenversicherung gesichert wird. Nur so ist eine Gleichbehandlung und ein gleichberechtigter, ausreichender Zugang zu den Therapieangeboten gewährleistet.»

Therapie von traumatisierten Flüchtlingen

1995 wurde mit dem Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer des Schweizerischen Roten Kreuzes SRK das erste Therapiezentrum für Folteropfer in der Schweiz gegründet. Aufgrund der hohen Nachfrage nach Behandlungsplätzen wurden inzwischen vier weitere Therapiestellen eröffnet, die sich zum Verbund «Support for Torture Victims» zusammengeschlossen haben.

Die finanzielle Beteiligung von Bund und Kantonen an den Kosten des interkulturellen Dolmetschens in der psychiatrischen Therapie sind bei Weitem nicht ausreichend. Da die Kosten des interkulturellen Dolmetschens durch die obligatorische Krankenversicherung nicht übernommen werden, müssen niedergelassene Psychiater/-innen und Psychotherapeuten/-innen den Einbezug von Übersetzungspersonen aus dem regulären Tarif der Stunde bezahlen. Diesen Kostendruck spüren indirekt auch die für die Behandlung von traumatisierten Flüchtlingen spezialisierten Therapiestellen. «Viele Patienten/-innen mit ungenügenden Sprachkenntnissen werden daher im Ambulatorium SRK angemeldet, wo die Kosten der Übersetzung das SRK trägt» sagt Carla Benedetti, Leiterin Betrieb und Qualitätssicherung im Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer SRK in Bern. Dies sei sicher mit ein Grund, weshalb das Ambulatorium SRK mehr Anmeldungen als freie Plätze habe.

Je nach personellen Ressourcen werden im Ambulatorium SRK Bern jährlich zwischen 250 und 320 Patienten/-innen betreut und begleitet bzw. zwischen 3000 und 4000 Konsultationen und Beratungsgespräche geleistet, ca. zwei Drittel der Therapiestunden mit Einbezug von interkulturell Dolmetschenden.

Die Kapazitätsprobleme wiederholen sich in allen Ambulatorien. «Die Nachfrage übertrifft unsere Ressourcen um ein Mehrfaches», bestätigt auch Matthis Schick, Leiter des Ambulatoriums für Folter- und Kriegsopfer (AFK) in Zürich gegenüber der NZZ. Das habe zur Folge, dass Patienten/-innen in Zürich rund ein Jahr lang warten müssten, bis sie zur ersten Sprechstunde eingeladen würden.

Nebst der fehlenden Kostenübernahme der Übersetzungsdienste durch die Krankenversicherung spielen weitere Gründe für die Unterversorgung von traumatisierten Flüchtlingen eine grosse Rolle: so der momentane Mangel an psychiatrischen Fachpersonen in der Schweiz oder der Spardruck im Gesundheitswesen, welcher sich besonders stark auf die psychiatrischen Einrichtungen in der Regelstruktur richtet. Das Ambulatorium des SRK und der Verbund «Support for Torture Victims» versuchen, mit einer Tagung am 7. Dezember 2016 in Bern, Politiker/-innen und Verantwortliche in der Gesundheitsversorgung auf diese Probleme aufmerksam zu machen.

Ein Pilotprojekt als Lösungsansatz

Das Staatssekretariat für Migration SEM hat im März 2016 das Pilotprojekt «Zugänge schaffen – Dolmetschunterstützung für traumatisierte Personen in der Psychotherapie» ausgeschrieben, welches die Förderung der Zusammenarbeit von psychotherapeutischen und psychiatrischen Diensten mit Dolmetschenden im Bereich der Traumabehandlung zum Ziel hat. Im Rahmen des Projektes wird interessierten Institutionen, die bisher nicht oder kaum mit interkulturell Dolmetschenden gearbeitet haben, ab dem Sommer 2016 bis Frühling 2018 ein Pauschalbeitrag für Dolmetscheinsätze ausgerichtet und beteiligte Fachpersonen werden für die Zusammenarbeit mit Dolmetschenden sensibilisiert. Michael Müller, Geschäftsleiter der Fachorganisation INTERPRET, beurteilt das Projekt zurückhaltend optimistisch: «Damit werden keine langfristigen finanziellen Hürden abgebaut, aber es wird einzelnen Stellen und Fachpersonen ermöglichen, konkrete Erfahrungen mit Dolmetschenden zu sammeln.»

Das SEM-Projekt bietet für viele Beteiligte eine Chance, neue Erfahrungen mit Dolmetschenden in der therapeutischen Praxis zu machen, doch bleibt das strukturelle Problem der ungenügend geregelten Finanzierung von Übersetzungsdienstleistungen über die Projektdauer hinaus vermutlich bestehen. Es sei denn, es gelänge, diese unerlässlichen Dienste via die Krankenversicherung zu entgelten.

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