humanrights.ch Logo Icon

Brian-Chronik

Die Brian-Chronik

14.08.2024

Die Brian-Chronik dokumentiert Brians Geschichte mit Blick auf die Menschenrechte. Sie beschreibt das Verhalten staatlicher Akteure vor dem Hintergrund ihrer menschenrechtlichen Verpflichtungen.

1. Erste Lebensjahre in Paris (1995 – 1998)

Brian wird am 21.9.1995 in Paris geboren. Seine ersten drei Lebensjahre verbringt er gemeinsam mit seiner älteren Schwester, seinem Bruder und seiner Mutter in einem afrikanischen Grossfamilienverband. Der Vater pendelt zwischen Zürich und Paris.

2. Anfangsphase in der Schweiz (1998 – 2002)

Als dreijähriger zieht Brian mit seiner Mutter und seiner Schwester in die Schweiz zu seinem Vater. In der Schweiz lernt Brian rasch Deutsch. Nach drei Monaten kann er sich bereits mit den anderen Kindern im Kinderhort unterhalten.

Im zweiten Kindergartenjahr meldet ihn die Kindergartenlehrerin in Absprache mit den Eltern für einen Kurs für Hochbegabte an. Die sogenannten «Universikum»-Kurse in Zürich richten sich an hochbegabte Schülerinnen und Schüler von Kindergarten bis 6. Klasse.

3. Schwierigkeiten und erste Aufenthalte in geschlossenen Einrichtungen (2002 – 2007)

Brian ist ein hyperaktives Kind und wird von einer Institution zur anderen geschoben und dabei auch mehrmals zu einem Kurzaufenthalt im Gefängnis auf dem Kasernenareal eingewiesen. Brian erhält während dieser Zeit nur sehr wenig Schulunterricht.

In den geschlossenen Abteilungen wird von ihm in erster Linie ein angepasstes Verhalten und das Befolgen der Regeln verlangt, sowie eine Therapiebereitschaft. Der Schulunterricht wird ihm innerhalb der Einrichtungen als Belohnung in Aussicht gestellt, zu der es aber nie kommt. Zwischenzeitlich wird Brian im Rahmen von Time-Outs in Familien in Deutschland und Italien platziert, wo er auf dem Hof helfen soll.

Als 10-Jähriger wird Brian fälschlicherweise der Brandstiftung verdächtigt, mit Handschellen von zu Hause abgeführt und das erste Mal inhaftiert. Die Eltern dürfen ihn nicht auf den Polizeiposten begleiten. Brian verbringt einen Tag in Haft im Gefängnis auf dem Kasernenareal und anschliessend fast zwei Monate in geschlossenen Einrichtungen – namentlich in der Durchgangsstation Winterthur. Die Vorwürfe gegen Brian erweisen sich später als haltlos; Brian war zu Unrecht beschuldigt worden.

Als 11-jähriger wird Brian während 6 Monaten in einer geschlossenen Abteilung in der AH Basel untergebracht, wo er rund um die Uhr von einer Person überwacht wird. Brian erinnert sich an diese Zeit: «Als Kind ist es extrem hart, so lange von den Eltern getrennt zu sein. Ich wollte einfach nur nach Hause zu meiner Familie».

4. 8-Monate Gefängnis als 12-Jähriger (2008 – 2009)

Brian wird wegen neuer Vorwürfe –, einer leichten Auseinandersetzung mit seinem Vater – zuerst ins Polizeigefängnis, danach im Gefängnis Horgen und ins Untersuchungsgefängnis Basel untergebracht. Als Grund für die monatelange Inhaftierung im Rahmen einer vorsorglichen Unterbringung nach Art. 15 des Jugendstrafgesetzes werden «fehlende Alternativen», oder sein «eigener Schutz» genannt.

Brian ist zwischen Juni 2008 und November 2009 insgesamt acht Monate lang in Erwachsenengefängnissen eingesperrt, in Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in der Zelle. Den einstündigen Hofgang muss er oftmals alleine absolvieren. In dieser Zeit hat Brian wenig bis gar keinen Schulunterricht. Nur in den letzten zwei Monaten wird ihm eine Stunde Unterricht pro Woche gewährt. Die Eltern von Brian dürfen ihn in dieser Zeit einmal die Woche hinter Trennscheibe besuchen. Nach diesem Aufenthalt hat Brian jahrelang Schlafstörungen.

5. Messerangriff / 9-monatiger Gefängnisaufenthalt (Juni 2011)

Von 2006 bis 2011 begeht Brian insgesamt 34 Delikte laut Oberjugendanwaltschaft.

Brian ist 15-jährig, als er am 15. Juni 2011 im Zürcher Quartier Schwamendingen ein schweres Gewaltdelikt begeht. Nach einer verbalen Auseinandersetzung mit einem 18-jährigen sticht er diesem zweimal mit dem Messer in den Rücken.

Brian verbringt nach dem Vorfall rund neun Monate in U-Haft, bzw. später in einer «vorsorglichen Unterbringung» (Art. 12 ff. i.V.m. Art. 5 JStG) im Gefängnis Limmattal. Er wird schliesslich zu einer 9-monatigen Freiheitsstrafe verurteilt, die er aber durch die Untersuchungshaft bereits verbüsst hat.

Im Gefängnis Limmattal ist er während 180 Tagen in Einzelhaft untergebracht und während 60 Tage in 2-er Zellen. Er ist 23 Stunden am Tag in der Zelle eingesperrt, bei einer Stunde Hofgang pro Tag. Den Hofgang muss er meistens alleine absolvieren. Die Eltern dürfen ihn eine Stunde pro Woche hinter einer Trennscheibe besuchen. Brian wird weder Schulunterricht noch Arbeit gewährt.

Das Bundesgericht heisst eine Beschwerde gegen die Haftbedingungen teilweise gut und hälft fest, dass die Jugendanwaltschaft «intensiv nach einem Platz in einer geeigneten erzieherisch-therapeutischen Massnahmeeinrichtung Ausschau halten muss». Zu einer Verlegung in eine für Jugendliche angemessene Einrichtung kommt es aber nie.

Brian versucht sich während dieser Zeit zweimal das Leben zu nehmen. Am 5. Juli 2011 versucht er sich zu erhängen, worauf er ein erstes Mal für einen Tag in die Psychiatrische Universitätsklinik (PUK) eingeliefert wird. Zurück im Gefängnis nimmt er im September einen Mix aus Shampoo, Salben und Desinfektionsgel ein. Nach diesem zweiten Suizidversuch wird Brian erneut in die Psychiatrische Universitätsklinik (PUK) in Zürich eingewiesen. Weil er sich weigert, Beruhigungsmittel einzunehmen, wird er zwangsmedikamentiert.

6. Tagelange Fixierung in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich als 15-Jähriger (November – Dezember 2011)

Nach den Suizidversuchen kommt Brian vom 14. September bis zum 19. Dezember 2011 in die Psychiatrische Universitätsklinik Zürich (PUK). Brian wird dabei während dreizehn Tagen ununterbrochen ans Bett fixiert und mit starken Medikamenten vollgepumpt. Das Beruhigungsmittel Promazin verabreichen ihm die Ärzte in einer dreifach stärkeren Dosis als üblich. Seinen 16. Geburtstag verbringt er vollständig bewegungsunfähig.

Brian wird mittels der 7-Punkte-Fixation jegliche Bewegungsfreiheit genommen. Seine Liegeposition ist unverrückbar, weil auch der Oberkörper mit einem eng anliegenden Gurt angeschnallt ist. Auf die Toilette gehen oder duschen darf er nicht. Für Stuhlgang und Urin werden einige Fixierungen leicht gelockert, damit er – im Liegen – seine Geschäfte erledigen kann. Nach zehn Tagen wird Brian ein einstündiger, begleiteter Spaziergang pro Tag gewährt. Die Medikation und die lange Fixierung haben Brian so geschwächt, dass er beim Spaziergang gestützt werden muss.

Nach dem Aufenthalt in der PUK kommt Brian in die forensische Klinik der PUK Rheinau, wo auch die Medikamente reduziert werden. Nach weiteren 14 Tage werden die Medikamente abgesetzt, danach bleibt der damals 16-jährige noch 18 weitere Tage ohne Medikamente in der PUK. Schliesslich wird Brian für 48 weitere Tage in der PUK-Basel in der damals neu geschaffenen Jugendforensik untergebracht, bevor er wieder zurück ins Gefängnis Limmattal verlegt wird.

Im September 2011 reicht Brians Schwester wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung Strafanzeige ein.

7. Sondersetting: Auf dem Weg in ein deliktfreies Leben (2012 – 2013)

Im Juni 2011 war Brian aufgrund einer Messerstecherei zu einer Freiheitsstrafe von neun Monaten und zu einer Busse verurteilt worden. Die Freiheitsstrafe hat Brian bereits durch die U-Haft verbüsst. Weil diese aber zugunsten einer ambulanten Behandlung in einer offenen Unterbringung aufgeschoben wurde, kommt er nun in ein Sondersetting.

Es wird ein Sondersetting eigens für Brian entworfen, welches seinen spezifischen Bedürfnissen entspricht. Es handelt sich um ein strenges Sondersetting mit einer Eins-zu-eins-Betreuung und einem minutengenauen Stundenplan, sieben Tage pro Woche. Brian besucht Einzelunterricht, absolviert eine Psychotherapie und trainiert Thaiboxen. Brian bewährt sich, hält sich an die Regeln, kooperiert, lernt, und ist 13 Monate lang deliktsfrei. Gemäss einem Bericht der Zürcher Justizvollzugsbehörden hat das Setting Stabilität gebracht und ist als Erfolg zu werten.

8. SRF DOK-Film und die Konstruktion des Falles «Carlos» durch die Medien (August 2013)

Am 25. August 2013 strahlt das Schweizer Fernsehen ein Porträt des Zürcher Jugendanwalts Hansueli Gürber aus, der damals für das Sondersetting von Brian zuständig ist. Gürber berichtet von dem Erfolg des Sondersettings und den Fortschritten, die Brian in dieser Zeit macht. Nebenbei erwähnt er, was das Sondersetting kostet: rund 29’000 Franken pro Monat.

Am Tag nachdem die Reportage «Der Jugendanwalt» ausgestrahlt wurde, entfacht die Boulevardzeitung «Blick» mit einem aggressiven Artikel einen nationalen Feuersturm. Die Headline: «Sozial-Wahn! Zürcher Jugendanwalt zahlt Messerstecher Privatlehrer, 4 1/2- Zimmer-Wohnung und Thaibox-Kurse. Kosten: 22 000 Fr pro Monat.»

Der Jugendanwalt Gürber wird in der Zeitung als Verhätschler von Straftätern verhöhnt und als Verschleuderer von Steuergeldern. Der Jugendliche mit dem Pseudonym «Carlos», der auf dem Weg der Besserung war, wird auf einen «Messerstecher» reduziert. Andere Zeitungen nehmen den Fall auf und führen die Skandalisierung fort. Aus dem Dokumentarfilm wird der «Fall Carlos», über den die Schweiz seit daher streiten darf. Der Journalist Matthias Ninck hat die mediale Skandalisierung des Dokumentarfilmes und das politische Versagen im März 2014 im Artikel «Der Verrat» für Das Magazin nachgezeichnet.

9. Willkürlicher Freiheitsentzug als 18-jähriger (August 2013 – Februar 2014)

Der damalige Zürcher Justizdirektor Martin Graf und der Leiter der Oberjugendanwaltschaft Marcel Riesen-Kupper sehen sich unter dem medialen Druck gezwungen, den Jugendanwalt Gürber zu entlassen und das Sondersetting von Brian abrupt abzubrechen. Mit der Begründung, ihn vor der öffentlichen Empörung und vor den Medien zu schützen, kommt Brian ins Gefängnis.

Brian kommt am 30. August 2013 für 83 Tage ins Gefängnis Limmattal, wo er sich 23 Stunden am Tag in Einzelhaft befindet, ohne Beschäftigung. Den Hofgang muss er allein absolvieren, die Eltern dürfen ihn 1 Stunde pro Woche hinter einer Glasscheibe besuchen. Danach wird er am 21. November 2013 in die geschlossene Abteilung des Massnahmenzentrums Uitikon verlegt, wo er 90 Tage eingesperrt bleibt. Dort dürfen die Eltern Brian insgesamt zweimal in einem offenen Besucherraum treffen.

In der Onlinezeitschrift «Jusletter.ch» erscheint am 16. Dezember 2013 ein Essay der Strafrechtsprofessoren Daniel Jositsch und Peter Aebersold. Die beiden schreiben, sinngemäss, im Fall Carlos führe der Mob Regie. Regierungsrat Martin Graf und Marcel Riesen-Kupper liessen zu, dass der «Blick» faktisch bestimme, was mit Carlos geschieht.

Am 18. Februar 2014 entscheidet das Bundesgericht, dass die Inhaftierung von Brian widerrechtlich war. Martin Graf habe Brian allein wegen des öffentlichen Drucks inhaftiert, der Jugendliche habe sich nichts zuschulden kommen lassen. Damit verstosse die Zürcher Justiz gegen Treu und Glauben; Justizdirektor Martin Graf und die Oberjugendanwaltschaft hätten willkürlich gehandelt. Der Jugendliche sei aus der geschlossenen Unterbringung zu entlassen. Die Justizdirektion gibt bekannt, wie es weitergeht: Brian kommt zurück ins Sondersetting, alles geht so weiter, wie es im August 2013 aufgehört hat.

10. Unschuldig in Untersuchungshaft als 19-Jähriger (Oktober 2014 – April 2015)

Brian wird mittags an der Zürcher Langstrasse von einer Person verbal provoziert. Brian überquert daraufhin die Strasse, worauf die Person in einen Hinterhof rennt und sich mit einer Eisenstange bewaffnet. Die Person beschuldigt Brian, dass er ihn mit einem offenen Klappmesser bedroht habe, was gemäss Urteil des Bezirksgerichtes Dietikon aber mit Sicherheit nicht der Fall war.

Brian kommt daraufhin für rund sechs Monate in Untersuchungshaft ins Gefängnis Limmattal. Dort ist er in Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in seiner Zelle. Da auf den Überwachungskameras kein Messer zu sehen war, wird Brian schliesslich freigesprochen und für die ungerechtfertigte Haft mit 100 Franken pro Hafttag entschädigt.

11. Erste Verurteilung als Erwachsener (August 2015)

Am 28. August 2015 wird Brian wegen einer Sachbeschädigung im Massnahmezentrum Uitikon zu einer Geldstrafe verurteilt. Brian hatte während seiner widerrechtlichen Unterbringung im Massnahmezentrum Uitikon ab November 2013 aus Protest seine Zelle unter Wasser gesetzt. Das Gericht hält in seinem Entscheid strafmildernd fest, dass es sich «um einen willkürlichen – durch das Verhalten des Beschuldigten nicht im Geringsten provozierten – Freiheitsentzug handelte (..) in diesem Lichte betrachtet erscheinen die Handlungen des Beschuldigten nicht als moralisch verwerflich. Vielmehr hätte angesichts der Situation, in welcher sich der Beschuldigte befand, sich wohl manch ein unbescholtener Bürger zu Handlungen der Gegenwehr hinreissen lassen.» Es ist Brians erste Verurteilung als Erwachsener.

12. Schlägerei und U-Haft (März 2016)

Brian trifft im Tram auf einen Kollegen, den er von einem Kickbox-Turnier kennt. Es ergibt sich eine verbale Auseinandersetzung, woraufhin Brian seinem Kollegen einen Faustschlag verpasst. Dabei bricht Brian dem anderen Mann den Unterkiefer und zieht sich selbst einen Fingerbruch zu. Die Schilderungen über den Tathergang gehen auseinander. Brian hatte sich zu diesem Zeitpunkt seit dem 15. Juni 2011 während fünf Jahren nichts zuschulden kommen lassen (Vgl. Ziff. 5) – abgesehen von der Sachbeschädigung im Massnahmenzentrum Uitikon (Vgl. Ziff. 11).

Das Bezirksgericht Zürich verurteilt Brian wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten. Es ist die zweite Straftat, für die er als Erwachsener verurteilt wird.

Brian befindet sich während 10 Monaten in verschiedenen Bezirksgefängnissen (Gefängnis Limmatal, Gefängnis Zürich, Gefängnis Winterthur, Bezirksgefängnis Pfäffikon). Hierbei ist er immer in Einzelhaft, 23 Stunden am Tag in der Zelle bei einer Stunde Hofgang täglich. Besuche der Eltern werden nur hinter Trennscheibe gewährt. Manchmal sind während zwei Wochen keine Besuche möglich.

13. Obergericht erzwingt Untersuchung (2016)

Nachdem Brians Schwester aufgrund seiner tagelangen Fixierung in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich im Jahr 2011 eine Strafanzeige wegen Körperverletzung und Freiheitsberaubung eingereicht hatte, war diese von der Zürcher Staatsanwaltschaft im Jahr 2015 selbständig eingestellt worden. (Vgl. Ziff. 6). Erst eine Beschwerde des Rechtsanwalts Marcel Bosonnet führt 2016 dazu, dass die Strafverfolger auf Anweisung des Obergerichts doch noch eine Untersuchung durchführen müssen.

14. Unmenschliche Behandlung im Gefängnis Pfäffikon (2017)

Anfang 2017 wird Brian im Bezirksgefängnis Pfäffikon in die Sicherheitsabteilung verlegt. Brian schläft über zwei Wochen lang auf dem nackten Boden, nur mit einem Poncho bekleidet, ohne Unterwäsche. Die Zelle ist unterkühlt. Brian friert, erhält aber keine Decke. In der Zelle gibt es weder Bett, Stuhl noch Matratze. Er darf nicht duschen und sich auch tagelang nicht die Zähne putzen. Er trägt drei Wochen lang ununterbrochen Fussfesseln, und der Hofgang wird ihm verweigert. Zum Essen gibt es belegte Brote. Gespräche mit seinem Verteidiger finden durch die geschlossene Zellentür statt. Besuche der Angehörigen werden gänzlich unterbunden. Das Gefängnis hält Brian gemäss einer Administrativuntersuchung von Staatsanwalt Dr. Weder «eine Zeit lang» Briefe vor, ohne entsprechende Verfügung. Das Gutachten kommt zum Schluss, dass die Situation objektiv gesehen einer «erniedrigenden und diskriminierenden Behandlung» gleichkomme. Als Ursache für die Behandlung macht der Gutachter die Überforderung des Gefängnispersonals mit dem Insassen aus. So sei der damalige Leiter des Gefängnisses neu im Amt gewesen und habe sich zu wenig um direkten Kontakt mit Brian und den Aufsehern gekümmert. Seine Aufgabe wäre gewesen, eine Vollzugsalternative zu prüfen. Da aber keine Schädigungsabsicht des Personals zu erkennen sei, verstosse die Behandlung nicht gegen die Verfassung und die Menschenrechtskonvention.

Dieser Auffassung widerspricht Dr. Jörg Künzli, Professor für Staats- und Völkerrecht an der Universität Bern, in einem späteren Gutachten. Künzli hält fest, es brauche zur Bejahung von Menschenrechtsverletzungen im Gegensatz zum Strafrecht keinen Vorsatz, bzw. keine Schädigungsabsicht der involvierten Staatsorgane. Brian habe im Bezirksgefängnis Pfäffikon eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention erdulden müssen. Folter liege hingegen nicht vor. Bei dieser rechtlichen Würdigung stellte Prof. Dr. Jörg Künzli auf denselben Sachverhalt wie die Administrativuntersuchung von Dr. Weder ab.

Die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr räumte später ein, dass es bei der Inhaftierung zu gravierenden Fehlern gekommen sei. Als Konsequenz davon musste der Gefängnisdirektor abtreten. Brian hat bezüglich der Haftbedingungen im Gefängnis Pfäffikon mit Hilfe seines Rechtsanwalts Markus Bischof eine Staatshaftungsklage eingereicht.

15. Der Zwischenfall in der JVA Pöschwies (Juni 2017)

Brian wird im Januar 2017 in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies verlegt. Kurz bevor er seine Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten (Vgl. Ziff. 12) vollständig verbüsst hat, kommt es zu einem folgenschweren Zwischenfall. Brian wird am 28. Juni 2017 zu einem Gespräch ins Büro des Leiters der Sicherheitsabteilung der Justizvollzugsanstalt Pöschwies gerufen, ein zweiter Mitarbeiter ist ebenfalls anwesend. Die zwei Mitarbeiter teilen dem Insassen unerwartet mit, dass er vom offenen Gruppenvollzug der Abteilung Alter und Gesundheit zurück ins Einzelhaftregime der Sicherheitsabteilung versetzt werde.

Begründet wird dies mit seiner eigenen Sicherheit. Mitgefangene hätten einen Angriff auf ihn geplant. «Zu seiner Sicherheit»: Diesen Satz hat er schon mal gehört – nämlich bei seinem 8-monatigen Gefängnisaufenthalt als 12-jähriger (Ziff. 4) und nach dem Abbruch des Sondersettings im Jahr 2013 (Ziff. 9). Brian fühlt sich einmal mehr ungerecht behandelt und verliert die Beherrschung. Er soll daraufhin aufgestanden sein und einen Stuhl an die Wand geworfen haben. Beim anschliessenden Gerangel erleidet der Gefängnismitarbeiter Prellungen. Auch Brian trägt ein blaues Auge und geschwollene Lippen davon.

Die Ansichten über den Vorfall gehen weit auseinander. Brian selber schildert den Vorfall wie folgt: «Für mich war das Vorgehen völlig unverständlich. Ich hatte ja nichts gemacht. Ich schrie vor Wut und Unverständnis, packte einen Stuhl und warf ihn nach hinten. Dorthin, wo es keine Leute hatte. Ich fand die Situation zwar krass unfair, wollte aber niemandem weh tun. Dann sind schon alle reingestürmt, und es gab ein Gerangel. Das war’s schon.» Verteidiger Thomas Häusermann sagt: «hätte der trainierte 23-Jährige tatsächlich mit Wucht zugeschlagen, wären ganz andere Verletzungen entstanden.» Vergeblich haben der Anwalt und der Vater eine Tatrekonstruktion verlangt. Die Aufseher machen eine Anzeige und Brian landet drei Monate vor Haftende direkt in Untersuchungs- bzw. Sicherheitshaft.

16. Verweigerung Hofgang in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich (2017)

Nach der Auseinandersetzung vom 28. Juni 2017 in der JVA Pöschwiess wurde Brian für eine Krisenintervention ins Zentrum für Stationäre Forensische Therapie der Psychiatrischen Universitätsklinik (ZSFT) verbracht.

Brian war im ZSFT in einem Isolationszimmer untergebracht, das nur für Toilettengänge, zum Duschen und für Hofgänge verlassen durfte, die jeweils unter Einbezug eines Sondereinsatzkommandos der Kantonspolizei erfolgten. Mit als «Entscheid» bezeichnetem Schreiben informierte der Leiter der ZSFT Brian darüber, dass ihm nur an jedem zweiten Tag ein überwachter Aufenthalt im Freien ermöglicht werde. An den insgesamt sieben Tagen während seines Aufenthalts im ZSFT wurde Brian kein Aussenaufenthalt ermöglicht.

17. Untersuchungshaft wegen Vorfall in der JVA Pöschweis (September 2017)

Bis am 27. September 2017 befand sich Brian wegen einer Schlägerei vom März 2016 (Vgl. Ziff. 12) im Strafvollzug. Am 28. September 2017 wird er aufgrund des Zwischenfalls in der JVA Pöschwies (Vgl. Ziff. 15) erneut vorläufig festgenommen. Das Bezirksgericht Zürich verfügt am 29. September 2017 wegen Wiederholungsgefahr die Anordnung von Untersuchungshaft.

18. Regionalgefängnis Burgdorf (April - August 2018)

Nachdem Brian für die Sicherheitshaft in die JVA Thorberg überwiesen worden war, wird er am 10. April 2018 ins Regionalgefängnis Burgdorf versetzt. Dort befindet er sich während vier Monaten und sieben Tagen in Untersuchungshaft. Im Kontext von gegenseitigen zugesicherten Verbindlichkeiten während des Aufenthalts können kleine Erfolge und klar formulierte Ziele erreicht werden. Das individualisierte Betreuungssetting, der stufenweise Vollzug und die damit einhergehende Ausgestaltung des Haftregimes erfolgte in enger Zusammenarbeit mit Brian selbst sowie dessen Anwalt. Die Eltern von Brian werden situativ und proaktiv eingebunden.

Brian hat während seines Gefängnisaufenthalts in Burgdorf Kontakt zu Mitinsassen, kann Sport treiben und einmal pro Woche den Fitnessraum besuchen. Ohne Fuss- und Handschellen. Seine Zellentüre ist drei Stunden am Tag geöffnet, die Gefangenen dürfen sich gegenseitig besuchen. Brian absolviert ausserdem ein Weiterbildungsprogramm. Der Vater darf Brian ohne Trennscheibe besuchen.

Der zuständige Bereichsleiter äussert sich im Vollzugsbericht namentlich wie folgt: «Brian liess sich immer öfter auf der Humorebene abholen und konnte auch so auf uns zugehen. Es war möglich, die Handschelle wegzulassen, die Einzelbehandlung aufzuheben und den Häftling aus der Isolationshaft auf eine normale Abteilung für U-Haft mit Zellenöffnung verlegen zu können.»

Das Regionalgefängnis Burgdorf beschreibt die zweite Hälfte des Aufenthalts in Burgdorf in der Tendenz positiv. Die folgenden Aussagen aus den Vollzugsberichten und Vollzugsverlaufsjournalen belegen zwar nicht, dass Brian ein perfektes Vollzugsverhalten an den Tag legte. Sie liefern jedoch den Beweis, dass ein menschlicher, konstruktiver Umgang mit ihm möglich ist und er unter diesen Umständen seinen Teil dazu beizutragen vermag:

  • «In den ersten zwei Monaten seines Aufenthaltes bei uns, sind die Episoden in denen Brian besonders auffiel, als eher negativ-destruktiv zu betrachten, die letzten zwei, als eher positiv-konstruktiv»
  • «Sein Verhalten war fortan grundsätzlich freundlich und zweitweise von Humor geprägt»
  • «Es zeigte sich, dass gute Gespräche in entspannter Atmosphäre möglich waren (…) Es war möglich sich mit der EP über ihren Fall zu unterhalten, ohne dass sie sich uns gegenüber aggressiv zeigte»
  • «Brian gab an, unter Druck und Stress zu geraten, wenn von ihm eine «grössere Anpassungsleistung» gefordert wird»
  • «Dies Spaziergänge blieben ohne Vorkommnisse und Beanstandungen und die Situation zwischen den Mitarbeitenden und der EP verbesserten sich zusehends».

Zum Schluss hält der Bericht fest: «Die Tatsache, dass sich Brian bei uns von Übergriffen und Tätlichkeiten distanzierte, lässt aufhorchen und könnte ein Ansatz für eine künftige Interventionsform sein». Als möglicher Ausweg aus der «Sackgasse» für Brian erwähnt der Bericht ein Stufenprinzip. Brian müsse «gute Erfahrungen mit sich selbst machen können und einen gewissen Stolz dafür tragen dürfen, ohne sich schwach zu fühlen.»

19. Rückversetzung in die JVA Pöschwies (August 2018)

Das kleine Regionalgefängnis Burgdorf kommt trotz der Fortschritte an seine Grenzen: einen Stufenvollzug kann es nicht bieten. Brian und sein Anwalt kämpfen dafür, dass er nicht zurück in die JVA Pöschwies verlegt wird, in der Brian sehr schlechte Erfahrungen gemacht hatte.

Brian wird am 18. August 2018 dennoch zurück in die JVA Pöschwies versetzt. In der Pöschwies wird er von einem Sicherheitskommando in Empfang genommen und direkt in eine eigens für ihn hergerichtete Arrestzelle verlegt, kombiniert mit einem für ihn konzipierten Sicherheitsregime. Die Staatsanwaltschaft hatte im Vorfeld einen Antrag auf Sicherheitshaft gestellt, dem das Zwangsmassnahmengericht gefolgt war.

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hinterfragt später die Notwendigkeit der Versetzung aus einem relativ offenen Setting im Regionalgefängis Burgdorf zurück in ein strenges Sicherheitsregime in der JVA Pöschwies. Zwei Wochen nach der entsprechenden NKVF-Intervention erstellt das Regionalgefängnis Burgdorf auf Anfrage der JVA Pöschwies einen neuen «Kurzbericht». Dieser beinhaltet nun, dass das Regionalgefängnis primär deshalb keine Möglichkeit mehr sieht, Brian weiter zu betreuen, weil «keine Sicherheitsabteilung» bestehe. Aus den Akten wird nicht ersichtlich, aus welchem anderen Grund dieser zweite Kurzbericht erstellt worden sein könnte, wenn nicht um das Sicherheitssetting nachträglich zu legitimieren.

Brian ersucht am 4. Oktober 2018 erfolglos um Verlegung aus der Sicherheitsabteilung der JVA Pöschwies in ein Untersuchungsgefängnis.

20. JVA Pöschwies: Isolationshaft (August 2018 – Januar 2022)

Brian wird in der JVA Pöschwies mitunter von Personen betreut, welche ihn aufgrund des Zwischenfalls vom 28. Juni 2017 in Pöschwies angezeigt haben und Hauptbelastungszeugen im laufenden Strafverfahren sind (Vgl. Ziff. 15). Dies, obwohl er gemeinsam mit seinem Rechtsanwalt mehrmals darum ersucht hat, diese Personen von seiner Betreuung zu dispensieren. Männer, von denen einige gleichzeitig Hauptbelastungszeugen gegen Brian sind, aber auch als potenzielle Beschuldigte einvernommen werden und in zwei Übergriffe an Brian beteiligt sind, bringen Brian jeden Tag sein Essen und überwachen ihn Tag für Tag. Brian beschreibt gegenüber humanrights.ch verschiedene Vorfälle, wo er vom Betreuungspersonal beschimpft worden sei. humanrights.ch liegen überdies eine Vielzahl an Tagebucheinträgen vor, in welchen Brian verschiedene problematische Vorfälle schildert. Die Häufigkeit und präzise Schilderung der Vorfälle deuten darauf hin, dass sich die Betreuer*innen ihm gegenüber nicht immer professionell verhalten. Im Sommer 2019 wird Brian für eineinhalb Monate in die JVA Lenzburg verlegt, wo es ebenfalls zu einem Zwischenfall mit dem Gefängnispersonal kommt. Brian erstattet deswegen später Anzeige.

Brian ist seit seiner Ankunft in der JVA Pöschwies durchgehend isoliert in einer rund 12 m² grossen Arrestzelle. Die Sitztoilette befindet sich offen in der Zelle. Die ersten drei Monate ist das Fenster mit einer transparenten Folie verdeckt, so dass er nicht nach draussen blicken kann. Um eine formell zu verfügende «Arreststrafe» (Art. 91 Abs. 3 StGB) zu umgehen, wird Brian ein Fernseher vor die vergitterte Glasscheibe gestellt. Brian sieht den Bildschirm nur im Stehen, wenn er mit dem Gesicht nahe genug an die Glasscheibe herangeht. Zu Beginn besteht das Gitter nur aus Längsprofilen, später wird es durch horizontale Stäbe ergänzt. Seither sieht Brian das Bild nur gerastert. Rund die Hälfte der Zeit befindet sich Brian gemäss den Aussagen des Vaters auch formell im «Arrest». In dieser Zeit kann er ausser dem Koran und der Anwaltspost nichts lesen. Er kann auch keine Briefe verschicken, erhält keinen Besuch, darf nicht mit den Eltern telefonieren und der Hofgang wird ihm des Öfteren verweigert. Einmal wird Brian während des Arrests der Hofgang während 20 Tagen am Stück gänzlich verweigert.

Während den ersten vier Monaten kann Brian gemäss eigenen Aussagen seine Hand- und Fussnägel nicht kürzen und pflegen, da er kein entsprechendes Werkzeug erhält. Die Handnägel kürzt er deshalb durch Abkauen. Erst Mitte Dezember 2018 erhält er Feilen aus Kunststoff. Während den ersten neun Monaten darf sich Brian gemäss eigenen Aussagen weder rasieren noch die Haare schneiden. Während den ersten acht Monaten erhält Brian gemäss eigenen Aussagen keinen Stift, um Notizen zu machen oder Briefe zu schreiben. Danach erhält er einen Gummistift, mit dem er nur undeutlich schreiben kann. Erst im Februar 2020 erhält Brian einen neuen Stift, mit dem er lesbar schreiben kann.

Um Brian von seiner Zelle über den Gang in den Spazierhof zu bringen, schickte die JVA Pöschwies lange Zeit sechs Aufseher, ausgerüstet mit Helm und Schutzschild. Brian wurde über zwei Jahre lang mit starren Hand- und kurzen Fussfesseln in den Hof geführt. Die Fesseln werden Brian auch im Hof nicht abgenommen. Dies, obwohl die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter NKVF anlässlich eines Besuches am 18. November 2018 die Direktion der JVA Pöschwies darauf hinwies, dass die Abnahme der Fesseln im Hof absolut notwendig ist. Brian hat aufgrund der Hand- und Fussfesseln starke Schmerzen an Hand- und Fussgelenken, so dass er den Hofgang nicht immer wahrnehmen kann. An Wochenenden und feiertags darf Brian über zwei Jahre nicht spazieren. Begründet wird dies mit fehlenden Ressourcen. Der ausserordentliche Personalaufwand könne nicht ohne Vernachlässigung der Sicherheit der Anstalt in anderen Bereichen geleistet werden. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich spricht später von «äusserst restriktiven» Haftbedingungen, die mit einem «dauernden Arrest» verglichen werden könnten.

Brian kann seine Angehörigen und andere Kontaktpersonen nur hinter einer Trennscheibe sehen. Am 18. Februar 2021 ersucht Brians hochbetagte Grossmutter die Behörden, dass sie ihren Enkel zu ihrem 93. Geburtstag ausnahmsweise ohne Trennscheibe besuchen dürfe. Das Gesuch wird abgelehnt. Zum letzten Mal Körperkontakt hatte Brian im Mai 2018 im Regionalgefängnis Burgdorf, als er seinen Vater bei einem Besuch umarmen durfte.

21. Anklage und Verjährung von Brians Behandlung in der PUK (September 2018)

Das 2011 von Brians Schwester eingereichte Strafverfahren (Vgl Ziff. 6 und 13) wegen versuchter Körperverletzung wird derart in die Länge gezogen, dass im September 2018 die Verjährung eintritt. Die Staatsanwaltschaft Zürich erhebt jedoch aufgrund der 13-tägigen Fixation von Brian in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich selbständig Anklage gegen drei verantwortliche Ärzte der PUK Zürich (Vgl. Ziff. 6).

22. Kurzaufenthalt in der Universitätsklinik Rheinau (April 2019)

Vom 11. April 2019 bis 25. April 2019 wird Brian für kurze Zeit in die Psychiatrische Klinik Rheinau verlegt. Im Kurzaustrittsbericht steht, dass Brian «in stabilem körperlichen und psychischen Zustand in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies in Regensdorf» entlassen werde. Brian sei «adäquat, zurückhaltend, höflich, soweit kooperativ und bewusstseinsklar» gewesen. Zum Entlassungszeitpunkt bestand gemäss Bericht kein «Anhalt für akute Eigen- oder Fremdgefährdung». Angesichts dieser Einschätzung ist fragwürdig, warum die JVA Pöschwies nach seiner Rückkehr trotzdem keine Lockerung des Haftsettings – insbesondere ein Hofgang ohne Hand- und Fussfesseln – in Betracht gezogen hat.

23. Gerichtliche Anordnung der Sicherheitshaft (April 2019)

Am 25. April 2019 ordnet das Bezirksgericht Dielsdorf für Brian offiziell die Sicherheitshaft an.

24. Brian reicht Strafanzeige gegen Betreuer*innen ein (April 2019 – März 2020)

Brian reicht aufgrund von zwei physischen Übergriffen durch Betreuer*innen vom 9. April 2019 in der JVA Pöschwies und 20. Juli 2019 in der JVA Lenzburg (Vgl. Ziff. 20) Strafanzeigen ein. Bezüglich des Vorfalls vom April 2019 beantragt die Staatsanwaltschaft, von einer Strafuntersuchung gegen die beteiligten Aufseher abzusehen (Art. 148 GOG).

25. Verurteilung wegen des Zwischenfalls in der JVA Pöschwies vom Juni 2017 (November 2019)

Im November 2019 verurteilt das Bezirksgericht Dielsdorf Brian zu vier Jahren und neun Monaten Gefängnis u.a. wegen versuchter schwerer Körperverletzung zum Nachteil des Gefängnismitarbeiters, welcher damals Prellungen erlitten hat (Vgl. Ziff. 15). Zudem ordnete es eine stationäre Massnahme an, um Brian zu therapieren. Im Gegensatz zur Freiheitsstrafe kann die stationäre Massnahme nach Artikel 59 des Strafgesetzbuches beliebig verlängert werden. Sie wird deshalb als «kleine Verwahrung» bezeichnet.

26. Das Kantonsgericht leitet eine Strafuntersuchung gegen die beteiligten Aufseher ein (März 2020)

Das Zürcher Obergericht lehnt am 4. März 2020 den Antrag der Staatsanwaltschaft ab, von einer Strafuntersuchung gegen die beteiligten Aufseher abzusehen (Vgl. Ziff. 24). In seinem Entscheid hält das Gericht zum fraglichen Vorfall fest: «Andererseits sind die mehreren, teils sehr starken Schläge gegen den Gesuchsteller auffällig (…) Der Gesuchsteller war zum fraglichen Zeitpunkt an Händen und Füssen gefesselt, bereits am Boden und überwältigt von sechs Sicherheitsmitarbeitenden in Vollmontur. So kräftig er auch sein mag – das Kräfteverhältnis war deutlich unausgeglichen (…) Wenngleich ein Teil der Verletzungen während des später erfolgten Lösens der Fesseln entstanden sein dürfte, machen gerade die fotodokumentierten Blessuren im Gesicht hellhörig; ebenso, dass von Seiten des Gesuchgegners und der JVA Pöschwies im Rapport zum Vorfall vorgebracht worden war, dass niemand verletzt worden sei, was klarerweise nicht der Fall ist.»

Die Staatsanwältin, welche die Untersuchung zuvor verhindern wollte, muss den Vorfall nun «contre coeur» untersuchen. Ob die menschenrechtlich erforderliche Unabhängigkeit (General Comment Nr. 36, Ziff. 28) der Strafuntersuchung dabei gegeben ist, ist fragwürdig.

27. Erstinstanzlicher Freispruch der Ärzte der PUK (August 2020)

Im August 2020 werden drei Psychiater der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich vom Zürcher Bezirksgericht erstinstanzlich freigesprochen und die 13-tägige Fixation als verhältnismässig eingestuft (Vgl. Ziff. 6 und 21). Damit widerspricht das Gericht dem Berliner Psychiater Werner E. Platz, der in einem vom Staatsanwalt in Auftrag gegebenen Gutachten festhält, dass er in seiner langjährigen Tätigkeit noch nie zuvor eine Fixierungsdauer von dreizehn Tagen erlebt habe. Platz spricht in seinem Gutachten von «Misshandlung». Brians Rechtsanwalt hat gegen das Urteil beim Zürcher Obergericht Beschwerde eingereicht.

28. Verweigerung einer externen ärztlichen Untersuchung (September 2020)

In einem Schreiben vom 17. September 2020 an die Justizdirektion verlangt Brians Anwalt Häusermann eine externe ärztliche Untersuchung der durch Hand- und Fussschellen ausgelösten Schmerzen: «Mein Mandant hat seit langem derartige Schmerzen und immer wieder offene Wunden an den Fussgelenken, dass er seinen Spaziergang grundsätzlich gar nicht mehr wahrnehmen kann». Dies sind nicht die einzigen gesundheitlichen Probleme. Brian hat ausserdem starke Nasenschmerzen, die von einem Übergriff durch die Aufseher*innen stammen. Seine Nase wurde niemals untersucht oder geröntgt. Dies obwohl im Austrittsbericht der Universitätsklinik Rheinau (Vgl. Ziff. 22) unter Prozedere klar festgehalten ist: «Bei weiterhin bestehenden Beschwerden im Nasen- und Rückenbereich sowie am rechten Knie empfehlen wir eine HNO-ärztliche bzw. (unfall-)chirurgisch-orthopädische Abklärung». Auch in dieser Hinsicht hat der Rechtsanwalt im September 2020 wiederholt eine externe ärztliche Untersuchung beantragt.

29. Entscheide zur Verweigerung des Hofgangs (August – November 2020)

Am 27. August 2020 entscheidet das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, dass die Verweigerung des Hofgangs in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich von 2017 widerrechtlich gewesen ist (Vgl Ziff 16). Die organisatorischen Schwierigkeiten und besonderen Umstände des Einzelfalls vermögen gemäss Verwaltungsgericht die Beschränkung der Aussenaufenthalte nicht zu rechtfertigen.

Am 17. November 2020 stützt das Bundesgericht die Verweigerung des Spaziergangs in der JVA Pöschwies, indem es die Beschwerde als rechtsmissbräuchlich verwirft. Es begründete dies hauptsächlich damit, dass Brian – nachdem man ihm eine separate Zelle mit Zugang zum Spazierhof gebaut hatte – diese kurz nach seiner Ankunft derart schwer beschädigte, dass er wieder in die alte Zelle zurückverlegt werden musste. Gemäss Brian wurde er in der neuen Zelle wütend, weil er gesehen hatte, dass die Zelle – auch das Innere der Zelle – vollständig mit Kameras überwacht wurde.

Am 19. November hielt das Zürcher Verwaltungsgericht in einem Urteil fest, dass der Vollzug der Sicherheitshaft in einer Strafvollzugsanstalt zulässig ist.

30. Wiederholte Verweigerung einer externen ärztlichen Untersuchung (Januar 2021)

Im Januar 2021 verfasst der Rechtsanwalt von Brian ein erneutes Schreiben an den Justizvollzug: «Mittlerweile sind über 20 Monate vergangen, in denen die umfassende ärztliche Untersuchung trotz diversen Schreiben meinerseits und sich verschlimmernden und zusätzlich hinzu gekommenen Schmerzen meines Mandanten weiterhin verweigert worden ist». Stattdessen müsse Brian schon seit zwei Jahren teilweise sehr hohe Dosen Schmerzmittel zu sich nehmen. Brian berichtet gegenüber humanrights.ch, dass er den Hofgang unter der Woche häufig ablehne: Weil die Fussgelenke von den eng angelegten Fesselungen entzündet und geschwollen seien und zu sehr schmerzten, könne er kaum noch gehen.

31. Bundesgericht weist Beschwerde zur Unterbringung in der JVA Pöschwies ab (März 2021)

Am 24. März 2021 weist das Bundesgericht eine Beschwerde von Brian gegen die Haftbedingungen in der JVA Pöschwies ab (Vgl. Ziff. 29) und kommt zum Schluss, dass eine Unterbringung in der JVA Pöschwies noch gerechtfertigt sei. Erst auf Dauer könnte sich bei «unverändertem Haftregime die Frage eines menschenwürdigen Haftvollzugs stellen.» Angesichts der bereits über drei Jahre dauernden Langzeit-Einzelhaft ist unklar, wann eine solch lange Dauer erreicht sein könnte.

32. Bezirksgericht Zürich anerkennt Brians Haftbedingungen als unmenschliche Behandlung (März 2021)

Das Bezirksgericht Zürich stellt im März 2021 fest, dass Brians Haftbedingungen im Gefängnis Pfäffikon (Vgl. Ziff. 14) eine unmenschliche Behandlung (Art. 3 EMRK, Art. 10 Abs. 3 BV) dargestellt haben, seine Forderungen auf Schadenersatz und Genugtuung weist es jedoch ab, da sie verwirkt seien. Das Urteil wird an das Zürcher Obergericht weitergezogen.

33. Gutachten vom «International Rehabilitation Council for Torture Victims» IRCT (April 2021)

Das «International Rehabilitation Council for Torture Victims (IRCT)» kritisiert die Haftbedingungen von Brian in einem Gutachten scharf. Es hält namentlich fest, dass die Isolation, der Brian seit 2 Jahren und 6 Monaten unterworfen ist, in hohem Masse der Definition von Folter und anderer grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung, gemäss der UNO-Antifolterkonvention und der Deklarationen des Weltärztebundes (World Medical Association/WMA) von Tokio (1975) entspricht. Sie müsse sofort beendet werden. Ausserdem sollte es Brian erlaubt sein, seine Familienmitglieder physisch zu treffen.

Beim IRCT handelt es sich um den grössten Dachverband zur Unterstützung von Folteropfern mit Sitz in Kopenhagen und Standorten in 76 weiteren Staaten. Das IRCT kümmert sich unter anderem um die Einhaltung des Istanbul-Protokolls. Die medizinischen Expert*innen Dr. Pierre Duterte und Dr. Önder Özkalipci haben in ihrem Berufsleben tausende Überlebende von Folter und Misshandlung untersucht sowie zahlreiche Artikel und Bücher über die psychologischen Folgen von Folter verfasst.

Obwohl die Expert*innen um ein mindestens 10-stündiges Treffen mit Brian ersucht hatten, gewährte ihnen das Amt für Justizvollzug nur 5 Stunden. Das Treffen fand am 28. April 2021 in einem kleinen Besprechungsraum des Gefängnisses Pöschwies hinter einer Trennscheibe statt. Dies obwohl das IRCT darum ersucht hatte, das Treffen in einem grossen Raum mit Tisch, Zugang zu Toilette und Wasser sowie ohne Trennscheibe durchzuführen.

34. Brian erhält eigenen Hof für Hofgang (Mai 2021)

Ab Mai 2021 findet Brians Hofgang ohne Fesselung und jeden Tag statt; in einem neuen, speziell errichteten, kleinen Hof.

35. Psychiatrisches Gutachten (Mai 2021)

Gemäss einem Gutachten von Psychiater Dr. Binswanger vom 24. Mai 2021 ist aufgrund von Brians Geschichte davon auszugehen, dass sein Nervensystem auf eine hohe Reizzufuhr- und Variabilität angewiesen wäre, damit er sein psychisches Gleichgewicht aufrechterhalten kann. Die installierten Haftbedingungen in der JVA Pöschwies würden gezielt das Gegenteil bewirken: Die Methode der Reizdeprivation sei demnach «in hohem Masse dazu geeignet, seine psychische Identität zu zerstören».

Dr. Binswanger beschreibt die Isolationshaft als psychische Folter, respektive «weisse Folter». Zwar fehle einer der wichtigsten Zwecke der Folter – die Erpressung von Aussagen. Hingegen ziele die Behandlung von Brian eindeutig auf eine Brechung seiner Persönlichkeit und diene ebenso der Abschreckung. Binswanger bewertet Brians Verhalten als ethisch und rational begründet. Menschen hätten das Recht, «sich mit allen verfügbaren Mitteln gegen Folter, unmenschliche Behandlung und allfällige andere staatliche Angriffe auf ihre Persönlichkeit, ihre Identität und ihr psychisches Überleben zur Wehr zu setzen» und «auf den eigenen Rechten zu bestehen».

Die Gegenwehr ermögliche es Brian, den Effekten der sensorischen undperzeptuellen Deprivation, welche durch die Haftbedingungen verursach werden, entgegenzuwirken. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die «kontinuierliche und konsequente Gegenwehr zu einer geringeren physischen und psychischen Schädigung geführt hat», als sie im Hinblick auf die Haftbedingungen und im Hinblick auf die lange Dauer erwartbar war.

36. Intervention UNO-Sonderberichterstatter (Mai 2021)

Ende Mai 2021 interveniert der UNO-Sonderberichterstatter für Folter Nils Melzer aufgrund der beschrieben Haftbedingungen bei der Schweizer Regierung. Er sagt: «Es stellen sich ernsthafte menschenrechtliche Fragen, und ich werde daher beim Schweizer Aussenminister offiziell weitere Abklärungen verlangen. Danach hat die Schweiz sechzig Tage Zeit. Erst nach Ablauf dieser Frist werden meine Intervention und allfällige Antworten der Schweiz auf der Website des Hochkommissariats für Menschenrechte publiziert.»

Nils Melzer besucht seit vielen Jahren und auf der ganzen Welt Gefängnisinsassen; seit 2016 als UNO-Sonderberichterstatter für Folter, zuvor zwölf Jahre lang als Delegierter für das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. Zum Thema Isolationshaft sagt er generell, diese verstärke die zugrundeliegenden Probleme eher und sei in aller Regel keine langfristige Lösung. Es müsse stets darum gehen, für jeden Insassen die menschlichste Haftform zu finden; die Vollzugsbehörden dürften es sich nicht zu einfach machen.

37. Gerichtsprozess wegen des Zwischenfalls in der JVA Pöschwies vom Juni 2017 (Mai/Juni 2021)

Im Mai 2021 verurteilt das Obergericht Brian zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 4 Monaten wegen dem Vorfall vom Juni 2017 in der JVA Pöschwies (Vgl. Ziff. 15). Damit erhöht es das Strafmass der Vorinstanz, welche ihn zu einer Freiheitsstrafe von 4 Jahren und 9 Monaten verurteilt hatte (Vgl. Ziff. 25). Auf die Anordnung einer stationären Massnahme verzichtet das Gericht jedoch im Gegensatz zur ersten Instanz. Auch auf die von der Staatsanwaltschaft geforderte ordentlichen Verwahrung verzichtet das Gericht.

Oberrichter Christian Prinz begründet dies so: Eine Verwahrung sei immer die Ultima Ratio. Sie komme nur dann infrage, wenn alle anderen Mittel ausgeschöpft seien. Zwar habe sich Brian der versuchten schweren Körperverletzung schuldig gemacht – ein Delikt, das als Katalogtat für die Anordnung einer Verwahrung aufgeführt ist. Zudem bestehe das Risiko auf erneute Straftaten, erklärt Prinz. «Aber Rückfallprognosen sind mit einer gewissen Fehlerquote behaftet.»

Niemand könne sagen, wie sich ein Mensch in Zukunft genau verhalten werde. «Brian ist kein Mörder, er ist kein Vergewaltiger, er ist kein Räuber und kein Brandstifter.», sagt Prinz. Seine Gewalt sei mit seinem Kampf gegen die Justiz zu verstehen. Es bestehe also durchaus die Möglichkeit, dass Brian sich nach Absitzen seiner Freiheitsstrafe bewähren könne. Eine Verwahrung sei deshalb zu diesem Zeitpunkt nicht verhältnismässig.

38. Verurteilung eines Beamten der JVA Lenzburg (Juli 2021)

Am 13. Juli 2021 wird ein Beamter der JVA Lenzburg wegen Amtsmissbrauch zu einer bedingten Geldstrafe von 18'900 Franken und einer Busse von 4'700 Franken verurteilt (Vgl. Ziff. 24). Der Verurteilte soll auf Brian eingetreten haben, nachdem er von sechs Beamten in der JVA Lenzburg zu Boden gedrückt und getasert worden war.

39. Präsidialverfügung des Obergerichts des Kantons Zürich (September 2021)

Brian befindet sich seit September 2017 in Untersuchungs- und später in Sicherheitshaft (Vgl. Ziff 17.) Er hat das Urteil des Zürcher Obergerichts vom November 2021 (Vgl. Ziff. 37) an das Bundesgericht weitergezogen und deshalb den ordentlichen Strafvollzug noch nicht angetreten. Nun reicht er einen Antrag auf sofortige Haftentlassung beim Zürcher Obergericht ein. Dieser wird am 17. September 2021 abgelehnt und vom Gericht die Fortsetzung der Sicherheitshaft bis zum Antritt des ordentlichen Strafvollzuges angeordnet. Das Obergericht rechtfertigt die restriktiven Haftbedingungen mit behördlichen Berichten, wobei es den von Brian vorgelegten Privatgutachten die Glaubwürdigkeit abspricht.

40. Zweite Intervention des UNO-Sonderberichterstatters für Folter (September 2021)

Nachdem das Aussendepartement EDA in Reaktion auf die erste Intervention des UNO-Sonderberichterstatters für Folter (Vgl. Ziff. 36) sämtliche Vorwürfe von sich wies, interveniert Sonderberichterstatter Niels Melzer am 3. September 2021 erneut. Er wirft dem Aussendepartement mangelnde Kooperation mit der UNO vor und verlangt erneut die Aufhebung von Brians Einzelhaft, sowie die Untersuchung aller Misshandlungsvorwürfe seit 2006.

41. Beschwerde von Brian (Oktober 2021)

Brian beschwert sich im Oktober 2021 beim Bundesgericht und beantragt die Aufhebung des Präsidialverfügung vom 17. September 2021 (Vgl. Ziff. 39). Das Obergericht des Kantons Zürich hatte damit die sofortige Haftentlassung von Brian verweigert und die Fortsetzung seiner Sicherheitshaft bis zum Antritt des ordentlichen Strafvollzuges verfügt.

42. Das Bundesgericht gibt Brian recht (November 2021)

Mit seinem Urteil vom 12. November 2021 heisst das Bundesgericht die Beschwerde von Brian gegen das Urteil der kantonalen Vorinstanz vollumfänglich gut. Damit wird das Urteil des Obergerichts Zürich vom Mai 2021 aufgehoben, welches Brian aufgrund verschiedener Delikte im Strafvollzug zu einer Freiheitsstrafe von 6 Jahren und 4 Monaten verurteilt hatte (Vgl. Ziff. 37). Mit dem Bundesgerichtsurteil wird zudem eine Beschwerde der Zürcher Oberstaatsanwaltschaft gegenstandslos, welche die Verwahrung von Brian verlangt hat.

Indem sich das Zürcher Obergericht nur mit den aktuellen Vollzugsbedingungen, nicht aber mit den Bedingungen der Strafen und (Zwangs-) Massnahmen auseinandersetzte, welche Brian bereits zuvor ausgestanden hatte, verletzte es gemäss Bundesgericht seine Begründungspflicht sowie Brians Anspruch auf rechtliches Gehör und stellte den massgebenden Sachverhalt nur unvollständig fest.

Das Bundesgericht weist die Sache zur neuen Entscheidung an das Zürcher Obergericht zurück: Es muss sich nun damit auseinandersetzen, was Brian seit seinem zehnten Lebensjahr im Strafvollzug erlebt hat. Zudem hat es sich mit den von der Verteidigung in Auftrag gegebenen Privatgutachten sowie den Gefängnistagebüchern von Brian auseinanderzusetzen. Schliesslich erinnert das Bundesgericht die Vorinstanz daran, sich nicht mehr auf frühere höchstrichterliche Entscheide zu berufen, welche sich bis anhin nie mit den persönlichen, sozialen und psychischen Auswirkungen von Brians Haftbedingungen auseinandergesetzt haben.

43. Kritik der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (November 2021)

Im November 2021 veröffentlicht die NKVF in einem siebenseitigen Schreiben ihre Empfehlungen. Kritisch sieht sie insbesondere die lange Dauer der Einzelhaft. «Lange Einzelhaft kann die psychische Gesundheit ernsthaft beeinträchtigen und die Möglichkeit einer Resozialisierung stark einschränken», hält sie fest. Es seien deshalb umfassende Massnahmen einzuleiten, um die Einzelhaft von Brian menschenrechtskonform zu gestalten und gesundheitliche Verschlechterungen zu vermeiden.

Die NKVF ist der Ansicht, dass die Kriterien für Haftlockerungen besser auf die Fähigkeiten des jungen Mannes angepasst werden müssten – «um ihm eine reale Möglichkeit zu geben, die aktuelle Haftsituation aus eigenem Verhalten zu verbessern». Die Kommission stellt angesichts der verzwickten Lage zudem die Frage, ob nicht nach Alternativen für die Unterbringung von Brian in anderen Einrichtungen gesucht werden müsste.

44. Zürcher Obergericht verweist Schadens- und Genugtuungsbegehren an Vorinstanz zurück (November 2021)

Im erstinstanzlichen Urteil durch das Zürcher Bezirksgericht wurde eine unmenschliche Unterbringung von Brian anerkannt, Schadenersatz oder Genugtuung jedoch nicht gewährt, da die Ansprüche nicht rechtzeitig geltend gemacht worden seien (Vgl. Ziff. 32) Entgegen dem erstinstanzlichen Urteil hält das Zürcher Obergericht nun aber nicht die Strafprozessordnung, sondern das kantonale Haftungsgesetz für anwendbar. Gestützt darauf hat Brian seine Ansprüche rechtzeitig vorgebracht und die Sache wird an das Zürcher Bezirksgericht zurück verwiesen.  

45. Psychiater werden vom Zürcher Obergericht freigesprochen (November 2021)

Das Zürcher Obergericht spricht die drei Psychiater der PUK Zürich vom Vorwurf der Freiheitsberaubung (vgl Ziff 6 und 24) frei und folgt damit dem Urteil der Erstinstanz (Vgl Ziff. 27). Es stuft die 13-tägige Fixation als verhältnismässig ein, anerkennt jedoch gleichzeitig, dass Brian Unrecht getan wurde und das Justizsystem versagt hat. Es gibt Brian im Punkt Recht, dass die lange Verfahrensdauer ein Verstoss gegen das Beschleunigungsgebot darstellt.

46. Bundesgerichtsurteil verlangt Aufhebung der Einzelhaft (Dezember 2021)

In einem Urteil vom 3. Dezember 2021 fordert das Bundesgericht von den Zürcher Behörden die Aufhebung der unmenschlichen Haftbedingungen. Brian hatte sich im Oktober 2021 gegen die Präsidialverfügung des Obergerichts des Kantons Zürich vom 17. September 2021 beschwert (Vgl. Ziff. 39 und 41), welches damit die Fortsetzung der Sicherheitshaft bis zum Antritt des ordentlichen Strafvollzugs angeordnet hatte. Die Beschwerde wird vom Bundesgericht teilweise gutgeheissen und der Fall ans Zürcher Obergericht zurückgewiesen. Das Bundesgericht kritisiert die einseitige Begründung der Vorinstanz und stellt fest, dass Brians Haftbedingungen «im Wiederspruch zu den Anforderungen an einen menschenrechtskonformen Haftvollzug, der auch bei Hochsicherheitshaft soziale Kontakte nach aussen wie auch im Innern der Anstalt sowie eine sinnvolle Gestaltung des Tagesablaufs mit geeigneten Beschäftigungsmöglichkeiten erfordert» stehen.

47. Frage an den Bundesrat (Dezember 2021)

Im Rahmen der Fragestunde im Nationalrat während der Wintersession 2021 stellt Nationalrätin Sibel Arslan dem Bundesrat die Frage, wie dieser im Fall Brian die Einhaltung der UNO-Antifolterkonvention sicherstelle und ob er sich für eine unabhängige und möglicherweise auch strafrechtliche Untersuchung der erhobenen Foltervorwürfe einsetze.

Der Bundesrat antwortet am 13. Dezember 2021, dass er die Arbeit der unabhängigen internationalen und nationalen Aufsichtsgremien zur Verhütung von Folter unterstütze. Er habe zudem volles Vertrauen in die Arbeit der kantonalen und eidgenössischen Gerichte, bei denen zurzeit noch Verfahren hängig seien. Er würde sich aufgrund der Gewaltentrennung weder in der Arbeit der Gerichte einmischen noch deren Urteile kommentieren.

48. Strafanzeige gegen Justizbehörde (Dezember 2021)

Die Anwälte von Brian haben am 24. Dezember 2021 Strafanzeige gegen die Zürcher Justizbehörden erstattet. Sie werfen den Verantwortlichen Folter und unmenschliche Behandlung vor. Die Anwälte stützen sich bei ihrem Vorgehen unter anderem auf ein Gutachten des Arztes André Seidenberg. Der Arzt untersuchte im Auftrag der Verteidiger die Krankengeschichte von Brian. Er kam zum Schluss, dass die ärztlichen Behandlungen und Untersuchungen in der JVA Pöschwies den medizinischen Standards nicht genügt haben. Es wurden lediglich Augenscheine durchgeführt, «wo medizinische Sorgfalt angebracht gewesen wäre», so Seidenberg an der Pressekonferenz vom 21. Februar 2022.

Die Anwälte fordern die lückenlose Untersuchung der Foltervorwürfe durch eine unabhängige Stelle sowie die sofortige Freilassung von Brian. Obwohl mehrere Gutachten und medizinische Berichte die unmenschliche Behandlung von Brian festgestellt hätten, seien die Behörden – entgegen internationalen Verpflichtungen – untätig geblieben. Der Wirtschafts- und Sozialrat der UNO hält hierzu fest: «Wenn ein Gefangener, ein Angehöriger oder ein Rechtsanwalt eine Folterbeschwerde erhebt, sollte immer eine Untersuchung stattfinden, und die beteiligten Beamten sollten bis zum Ergebnis der Untersuchung und etwaiger anschließender Gerichts- oder Disziplinarverfahren vom Dienst suspendiert werden, es sei denn, die Anschuldigung ist offensichtlich unbegründet».

49. Rassismus-Kritik einer UNO-Arbeitsgruppe (Januar 2022)

Im Januar 2022 kriegt Brian in Pöschwies Besuch von der UNO-Arbeitsgruppe von Sachverständigen für Menschen afrikanischer Abstammung. Das rund einstündige Treffen findet im Spazierhof statt – ohne Schranke oder Fesselungen. Die Expert*innengruppe sieht den Fall Brian als «drastisches Beispiel für strukturellen Rassismus in der Schweiz». In ihrer Medienmitteilung hält die Arbeitsgruppe fest: «Rassendiskriminierung und Ungerechtigkeit sind in jeder Phase dieses Falls offensichtlich.»

50. Verlegung in Untersuchungsgefängnis (Januar 2022)

Als Reaktion auf das Bundesgerichtsurteil vom Dezember 2021 (Vgl. Ziff. 46) wird Brians Langzeithaft im Januar 2022 von der Zürcher Justizdirektion aufgehoben. Er wird in ein Zürcher Untersuchungsgefängnis verlegt und dort in ein normales Haftregime eingegliedert. Dazu gehört die Möglichkeit, Kontakte mit Mitinsassen zu pflegen.

51. Genugtuung für unmenschliche Haftbedingungen (Februar 2022)

Das Bezirksgericht Zürich spricht Brian am 24. Februar 2022 eine Genugtuung von 1'000 Franken zu. Noch im März 2021 hatte das Gericht zwar festgestellt, dass Brians Haftbedingungen eine unmenschliche Behandlung im Sinne von Arikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention und Artikel 10 Absatz 3 der Bundesverfassung darstellten, seine Forderungen auf Schadenersatz und Genugtuung jedoch abgewiesen, weil sie verwirkt seien (Vgl. Ziff. 32). Anhand eines Berufungsentscheids wies das Züricher Obergericht die Sache bezüglich Schadens- und Genugtuungsbegehren im November 2021 zurück an die Vorinstanz. Entgegen dem erstinstanzlichen Urteil sei nicht die Strafprozessordnung, sondern das kantonale Haftungsgesetz anwendbar. Gestützt darauf hat Brian seine Ansprüche rechtzeitig geltend gemacht (Vgl. Ziff. 44).

52. Obergericht verlängert Sicherheitshaft (März 2022)

Mit Einzelrichterentscheid vom 17. März 2022 (SB210634-O/Z7/js) verlängert das Obergericht Zürich die Sicherheitshaft von Brian bis zum Endentscheid der Berufungsinstanz im Strafprozess. Zur Begründung führt es an, dass die Haftvoraussetzungen des dringenden Tatverdachts sowie der Wiederholungsgefahr weiterhin erfüllt seien. Überdies bestehe vorerst noch keine Gefahr von Überhaft und Brian befinde sich inzwischen in einem ordentlichen Haftsetting, welches nicht zu beanstanden sei. Gegen diesen Entscheid legen Brians Anwälte beim Bundesgericht eine Beschwerde ein.

53. Abschlussintervention des UNO-Sonderberichterstatters für Folter (März 2022)

Nachdem das Aussendepartement auch nach der zweiten Intervention des UNO-Sonderberichterstatters für Folter (Vgl. Ziff. 40) keine Massnahmen ergriffen hat, reicht Niels Melzer Ende März 2022 seine Abschlussintervention ein. Darin fordert er die Schweiz zur juristischen Aufarbeitung von sieben exemplarischen Vorfällen im staatlichen Umgang mit Brian auf. Der UNO-Sonderberichterstatter kritisiert die Schweiz dafür, dass sie trotz wiederholter Aufforderung seinerseits keine Untersuchung gemäss UNO-Antifolterkonvention durchgeführt hat. Die Reaktion der Behörden habe nur aus Rechtfertigungsversuchen für die Missachtung  zwingenden Völkerrechts bestanden. Damit habe die Schweiz ihre menschenrechtlichen Verpflichtungen verletzt.Die Abschlussintervention wurde von Miriam Estrada-Castillo, der Vizepräsidentin der UNO-Arbeitsgruppe zu willkürlicher Haft, sowie von Dominique Day von der  UNO-Arbeitsgruppe von Sachverständigen für Menschen afrikanischer Abstammung. mitunterzeichnet. Die Intervention und eine allfällige Antwort der Schweiz wird Ende Mai 2022 veröffentlicht.

54. Bundesgericht lehnt Beschwerde gegen Sicherheitshaft ab (Mai 2022)

Das Bundesgericht weist mit einem Urteil vom 11. Mai 2022 die Beschwerde gegen die Haftverlängerung von Brian ab (vgl. Ziff. 52). Zwar habe sich sein Verhalten verbessert, er befinde sich jedoch «nunmehr erst seit rund dreieinhalb Monaten und damit noch nicht allzu lange im wieder lockereren Regime». Auch eine Therapie, welche zu seiner Stabilisierung beitragen könnte, stehe noch offen. Insgesamt geht das Bundesgericht von einer abgeschwächten, aber immer noch massgeblichen Wiederholungsgefahr aus. Eine sogenannte Überhaft – d.h. eine Sicherheitshaft, welche länger dauert als die schliesslich gefällte Freiheitsstrafe – werde aber zusehende wahrscheinlicher.

55. UNO-Arbeitsgruppe äussert sich zu Brian (Oktober 2022)

Nachdem sich die UNO-Expertengruppe für Menschen afrikanischer Abstammung im Januar 2022 in Pöschwies mit Brian getroffen hat (vgl. Ziff. 49), veröffentlicht sie ihre Ergebnisse am 4. Oktober 2022 in einem Bericht. Gemäss der Arbeitsgruppe ist der Umgang der Schweizer Behörden mit Brian stark von negativen rassistischen Überzeugungen und Stereotypen über Schwarze Männer und Jugendliche geprägt. Brian sei seine Kindheit sowie der Zugang zu Familie und Bildung verweigert worden. Seine Situation sei ein krasses Beispiel für systematischen Rassismus und gesetzlich legitimierte Folter.

56. Züricher Obergericht ordnet Freilassung an (Oktober 2022)

Mit einer Verfügung vom 31. Oktober 2022 ordnet das Züricher Obergericht die Freilassung von Brian aus der Sicherheitshaft an. Die andauernde Haft sei nicht mehr verhältnismässig, weil sie in grosse zeitliche Nähe der zu erwartenden Freiheitsstrafe für die ihm vorgeworfenen Delikte gerückt sei. Bereits das Bundesgericht hat in einem Urteil vom 11. Mai 2022 darauf hingewiesen, dass eine Überhaft zunehmend wahrscheinlicher werden (vgl. Ziff. 54).

57. Staatsanwaltschaft stellt Antrag auf Untersuchungshaft (November 2022)

In einer Medienmitteilung vom 3. November 2022 verkündet die Zürcher Staatsanwaltschaft, dass sie die Verfügung des Zürcher Obergerichtes zur Freilassung von Brian nicht anficht. Jedoch stellt sie im Zusammenhang mit laufenden Strafverfahren zu verschiedenen Vorfällen in Vollzugseinrichtungen beim zuständigen erstinstanzlichen Zwangsmassnahmengericht einen Antrag auf Untersuchungshaft. Mit der Begründung, es bestünde zum jetzigen Zeitpunkt Wiederholungsgefahr.

58. Zürcher Zwangsmassnahmengericht ordnet Untersuchungshaft an (November 2022)

Das Zürcher Zwangsmassnahmengericht ordnet am 8. November 2022 auf Antrag der Staatsanwaltschaft (vgl. Ziff. 57) Untersuchungshaft für Brian an. Damit wird der Entscheid des Zürcher Obergerichts vom 31. Oktober 2022 (vgl. Ziff. 56) hinfällig, wonach Brian wegen der Gefahr einer Überhaft hätte freigelassen werden sollen. Brians Anwälte ziehen die Verfügung des Zürcher Zwangsmassnahmengerichtes an das Zürcher Obergericht weiter.

59. Zürcher Obergericht bestätigt erneute Untersuchungshaft (Dezember 2022)

Das Zürcher Obergericht lehnt am 14. Dezember 2022 die Beschwerde von Brians Anwälten gegen die erneute Untersuchungshaft (vgl. Ziff. 57) ab und bestätigt damit den Entscheid des Zürcher Zwangsmassnahmengerichts vom November 2022 (vgl. Ziff. 58). Der Entscheid ist noch nicht rechtskräftig und kann ans Bundesgericht weitergezogen werden.

60. Bundesgericht weist Beschwerde gegen Bestätigung von Untersuchungshaft durch Zürcher Obergericht ab (Februar 2023)

Mit Urteil vom 13. Februar 2023 (1B_22/2023) bestätigt das Bundesgericht das Urteil vom Zürcher Obergericht. Der Beschwerdeführer muss somit weiterhin in Untersuchungshaft bleiben. Das Zürcher Obergericht habe zu Recht eine Wiederholungsgefahr bejaht. Es sei gerichtsnotorisch, dass der Beschwerdeführer in gewissen Stresssituationen zu aggressivem Verhalten neige (Ziff. 2.8). Das Bundesgericht hält weiter fest, dass die Vorinstanz kein Bundesrecht und keine Grundrechte des Beschwerdeführers verletzt habe (Ziff. 2.9). Im Hinblick auf die Rüge der unverhältnismässigen strafprozessualen Haftdauer von sieben Jahren (Ziff. 3.ff.) hält das Bundesgericht fest, dass im vorliegenden Verfahren nicht zu prüfen sei, ob frühere Inhaftierungen verhältnismässig erscheinen. Vielmehr soll in diesem Verfahren die am 8. November 2022 neu angeordnete Untersuchungshaft auf ihre zeitliche Verhältnismässigkeit geprüft werden (Ziff. 3.2.). In diesem Zeitrahmen der neuen Anordnung (ab 8. November 2022) sei die bisherige Haftdauer ‘noch nicht in grosse Nähe der freiheitsentziehenden Sanktion gerückt’ (Ziff. 3.2).

61. Bundesgericht hebt den Freispruch von Brians Psychiatern auf (Juli 2023)

Mit Urteil vom 23.06.2023 (6B_356/2022) hebt das Bundesgericht das Urteil des Zürcher Obergerichts vom 29.Oktober 2021 auf. Dies aufgrund einer Beschwerde, die Brians Anwälte eingereicht hatten. Das Bundesgericht weist den Entscheid an die Vorinstanz zurück, weil diese ihren Begründungsanforderungen nicht nachgekommen sei. Zudem anerkennt das Bundesgericht, dass Brian möglicherweise Opfer von Folter oder einer anderen grausamen, unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung wurde. Den Psychiatern, die für die 13-Tage andauernde sog. 7-Punkte-Fixierung des damals 16-Jährigen Brian verantwortlich sind (vgl. Brian Chronik Punkt 6), droht nun möglicherweise doch eine Verurteilung wegen Freiheitsberaubung.

62. Bundesgericht entscheidet: Sicherheitshaft Brians ist rechtens (August 2023)

Das Bundesgericht hat in seinem Urteil vom 24.07.2023 (7B_188/2023) entschieden, dass die angeordnete Sicherheitshaft mit der Strafprozessordnung vereinbar ist und nicht gegen das Recht auf Freiheit verstösst. Das Bundesgericht hält aber fest, dass es nicht nachvollziehbar ist, weshalb die Zürcher Staatsanwaltschaft mit der Eröffnung der Strafuntersuchung so lange gewartet hat und warum die Haft gerade mal drei Tage vor der Haftentlassung erneuert wurde. Die Strafbehörden werden vom Bundesgericht angehalten, die aktuelle Strafuntersuchung ‘nunmehr zügig voranzutreiben’ (§ 10.5.1.).

63. Bundesgericht verurteilt Gefängnisaufseher wegen Schlägen und Tritten (Juli 2023)

Am 10. Juli 2023 verurteilt das Bundesgericht (6B_1298/2022) einen Mitarbeiter aus der JVA Lenzburg wegen Amtsmissbrauchs. Er hatte Brian am 11. Juli 2019 bei der Verlegung in eine andere Haftanstalt zwei Fusstritte und zwei Faustschläge verpasst, als dieser wehrlos auf dem Boden lag.

64. Bezirksgericht Dielsdorf entscheidet: Die dreieinhalb Jahre dauernde Isolationshaft in der Pöschwies ist unmenschlich gewesen (November 2023)

Seit das Bundesgericht die Isolationshaft im Januar 2022 aufgehoben hat und sich Brian seitdem im Gefängnis Zürich befindet, hat er sich nichts mehr zu Schulden lassen kommen. Er hält sich im ordentlichen Gefängnisalltag an Abmachungen und übt keinerlei Gewalt aus.

Trotz dem guten Führungsbericht des Gefängnis Zürichs muss sich Brian Ende Oktober 2023 vor dem Bezirksgericht Dielsdorf für Delikte verantworten, die er während seiner 3,5-jährigen Isolationshaft in der Zürcher Justizvollzugsanstalt Pöschwies begangen hat. Die Verteidigung vertritt den Standpunkt, dass die Handlungen von Brian als unmittelbare Reaktionen auf die unmenschlichen Haftbedingungen der Isolationshaft zurückzuführen seien. Die Zürcher Behörden hätten ihm die dringend benötigten Beschäftigungen und Reize zur Stimulation verwehrt. In seiner Einsamkeit und der langen Isolation ohne Bücher, Weiterbildungsmöglichkeiten oder Kontakt zu Mitinsassen seien ihm keine anderen Möglichkeiten zur Verfügung gestanden, als sich gegen den drohenden Wahnsinn zu wehren, laut zu sein und sich Reize zu verschaffen. Er sei unmenschlich im Sinne des Folterverbotes behandelt worden und habe sich dagegen wehrt. Er habe in einem rechtfertigenden Notstand nach Art. 17 StGB gehandelt. Diese Ausführungen der Anwälte von Brian wurden durch den amtlichen Gutachter gestützt, der die Haftbedingungen im Auftrag des Zürcher Obergerichtes untersuchte.

Zwei Tage vor der Urteilseröffnung entschuldigt sich Thomas Manhart, Leiter des Zürcher Justizvollzugs von 2007 bis 2019, öffentlich bei Brian. Er entschuldigte sich in aller Form für das Unrecht, das er ihm unter seiner Verantwortung angetan hatte und für die Verletzung der Menschenrechte, die überlange Einzelhaft, die Hoffnungs- sowie Perspektivlosigkeit.

Bei der Urteilseröffnung vom 08. November 2023 findet das Bezirksgericht Dielsdorf deutliche Worte und macht klar, dass die Pöschwies Brian nicht so lange hätte isolieren dürfen. Die dreieinhalb Jahre dauernde Einzelhaft sei unmenschlich gewesen. Dennoch folgt das Gericht nicht der Auffassung der Verteidigung, dass die Gewaltbereitschaft von Brian durch die unmenschliche Isolationshaft zu rechtfertigen gewesen sei und spricht eine Freiheitsstrafe von 2,5 Jahren aus. Aufgrund der drohenden Überhaft wird Brian am 10. November 2023 aus der Sicherheitshaft entlassen. Die Eltern und Anwälte von Brian haben ein Konzept erarbeitet, um ihn bei sämtlichen Herausforderungen, die ihn ausserhalb der Gefängnismauern nach dem langen Freiheitsentzug erwarten, adäquat zu unterstützen.

65. Bundesgericht heisst Beschwerden von Brian Keller teilweise gut. Die Staatsanwaltschaft muss gegen ihren Willen Strafuntersuchung gegen zwei Mitarbeiter der JVA Pöschwies weiterführen bzw. beim zuständigen Gericht Anklage gegen sie erheben. 

Im April 2019 kommt es in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies im Rahmen der Vorbereitung für den Hofspaziergang mit Mitarbeitern der Sicherheitsabteilung zu einem Zwischenfall. Brian Keller ist an Händen und Füssen gefesselt. Er schlägt gegen den Schutzschild eines Beamten der JVA. Daraufhin bringen sechs Mitarbeitende ihn zu Boden und mindestens zwei Beamte schlagen auf ihn ein. Die Eltern von Brian Keller erheben gegen die betroffenen Mitarbeiter der JVA Strafanzeige und werfen ihnen vor, ihren Sohn unverhältnismässig angegangen und verletzt zu haben.

Der Gefängnisarzt stellt am Tag des Vorfalls eine Schwellung und einen Bluterguss an der Nase, Schwellungen und Blutergüsse an beiden Handgelenken mit deutlich ringförmigen, möglicherweise durch Handschellen verursachte Abdrücke, eine kleine oberflächliche Rissquetschwunde am rechten Ellbogen sowie mehrere kleine Blutergüsse an beiden Unterarmen fest.

Für das Bundesgericht ist es klar, dass zwei Beamte Schläge gegen ihn ausführten und damit grundsätzlich strafbare Handlungen begangen haben. Bezüglich der Frage, ob diese Handlungen gemäss § 23 StJVG/ZH i.V.m. Art. 14 StGB gerechtfertigt sind, ist die Sach- und Rechtslage nicht hinreichend klar. Für das oberste Gericht ist auf den Videoaufnahme nicht eindeutig erkennbar, ob die Schläge nur vor oder auch noch nach der Fixierung auf dem Boden erfolgten (Vorliegen einer Rechtfertigungssituation) und wo Brian Keller getroffen wurde. Darüber hinaus muss ein Gericht die Frage klären, ob die Schläge für die Fixierung tatsächlich geeignet und erforderlich sind (Verhältnismässigkeit der Handlungen). Die Staatsanwaltschaft darf folglich das Verfahren nicht einstellen und muss die Strafuntersuchungen gegen diese beiden Beamten weiterführen und beim zuständigen Gericht Anklage erheben. Auf die Beschwerde der Verteidigung, dass die Strafuntersuchung durch eine vom Zürcher Justizapparat unabhängige Staatsanwaltschaft durchzuführen sei, wird nicht eingetreten.

66. Zürcher Staatsanwaltschaft eröffnet Strafverfahren gegen Brian Keller (Januar 2024)

Gestützt auf polizeilichen Ermittlungen eröffnete die Staatsanwaltschaft am 22.01.2024 ein Strafverfahren wegen öffentlicher Aufforderung zu Verbrechen oder zur Gewalttätigkeit gemäss Art. 259 StGB.

67. Das Bundesgericht heisst die Beschwerde teilweise gut

Am 12. Juli 2024 beurteilt das Bundesgericht (Urteil vom 12. Juli 2024 (2C_900/2022)), dass die Zürcher Justiz die von Brian Keller geforderte Genugtuung für die rechtswidrigen Haftbedingungen während 20 Tagen Einzelhaft im Jahr 2017 mit 50 Franken pro Tag willkürlich tief angesetzt hat.  Die Vorinstanz hat die Schwere des Verstosses gegen Art. 3 EMRK (Verbot von unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) nicht, bzw. unzutreffend gewürdigt. Die Sache wird zu neuem Entscheid ans Obergericht zurückgewiesen.

kontakt

Livia Schmid
Leiterin Beratungsstelle Freiheitsentzug

livia.schmid@humanrights.ch
031 302 01 61
Bürozeiten: Di/Do/Fr