31.03.2017
Im Jahr 2014 haben die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen eine Volksinitiative zur Wiedergutmachung des begangenen Unrechts eingereicht. Anfang Dezember 2015 hat der Bundesrat einen Gegenvorschlag zur Initiative zuhanden des Parlaments verabschiedet. Am 30. September 2016 hat das Schweizer Parlament den Gegenvorschlag angenommen.
Der Gegenvorschlag erfüllt die Hauptforderungen der Initianten/-innen. Er sieht neben einer wissenschaftlichen Aufarbeitung einen Solidaritätsbeitrag von insgesamt 300 Millionen Franken vor.
Die Initiantinnen und Initianten zogen nach dem Ja von National- und Ständerat zum Gegenvorschlag das Volksbegehren zurück. Sie forderten zwar einen höheren Fonds, sehen in dem Gegenvorschlag aber auch Vorteile. Weil der indirekte Gegenvorschlag keine Verfassungsänderung verlangt, wird seine Umsetzung deutlich schneller gehen, als der Weg über die Volksinitiative. Auf diese Weise sollen auch die hochbetagten Opfer noch in den Genuss einer Wiedergutmachung kommen.
Am 22. Februar 2017 hat der Bundesrat zudem ein neues Nationales Forschungsprogramm zum Thema «Fürsorge und Zwang» lanciert.
- Parlament verabschiedet Gegenvorschlag
Webseite der Wiedergutmachungsinitiative, 03.Oktober 2016 (online nicht mehr verfügbar) - Wiedergutmachung für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen
Medienmitteilung, Vernehmlassungsergebnisse und Botschaft des Bundesrats, 04.12.2015 - Botschaft zur Wiedergutmachungsinitiative und zum Gegenvorschlag (online nicht mehr verfügbar)
Medienmitteilung des Initiativkomitees, 04.12.2015
Der Gegenvorschlag: Anerkennung und finanzielle Unterstützung
Die Wiedergutmachungsinitiative wurde von den Initianten/-innen am 19. Dezember 2014 mit über 110‘000 Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht. Konkret forderten die Initianten/-innen die historische Aufarbeitung des Themas und einen Fonds von 500 Millionen für schwer betroffene Opfer.
Der Bund anerkenne mit dem Gegenvorschlag das Unrecht, das den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in der Schweiz vor 1981 zugefügt worden sei, schrieb der Bundesrat in einer Medienmitteilung vom 24. Juni 2015. Auch regle der Gegenvorschlag die Voraussetzungen für die Ausrichtung von finanziellen Leistungen im Gesamtumfang von 300 Millionen Franken zugunsten der schätzungsweise 12'000 bis 15'000 Opfer. Der Bund ging von einer tieferen Zahl an Beitragsgesuchen aus als die Initianten/-innen und schlug deshalb auch einen niedrigeren Beitrag von 300 anstatt 500 Millionen vor.
Der Bundesrat hielt in seiner Mitteilung zudem fest, dass der gewählte Weg über einen indirekten Gegenvorschlag eine schnellere Aufarbeitung der Geschehnisse ermögliche als der Weg über eine Verfassungsrevision mit anschliessender Ausarbeitung eines Gesetzesentwurfes. Auf diese Weise sollten möglichst viele Opfer, von denen sehr viele in fortgeschrittenem Alter und gesundheitlich angeschlagenem Zustand seien, noch in den Genuss einer Anerkennung ihres erlittenen Leides und einer Wiedergutmachung kommen.
Diesen Vorteil anerkannten auch die Initianten/-innen und zogen nach dem Ja des Parlaments die Initiative zurück, unter der Bedingung, dass kein Referendum zustande kommt. Am 26. Januar 2017 lief die Referendumsfrist unbenutzt ab. Das Gesetz trat somit am 1. April 2017 in Kraft.
Seit dem 1. Dezember 2016 können die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen bereits Anträge für einen Solidaritätsbeitrag einreichen.
- Bundesgesetz über die Aufarbeitung der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 (AFZFG)
- Chronologie AFZFG
Website des Schweizerische Bundeskanzlei - Volksinitiative und indirekter Gegenvorschlag
Geschäft des Bundesrates 15.082, Curia Vista, 04. Dezember 2015 - Wiedergutmachung für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen
Dokumentation auf der Webseite des Bundesamtes für Justiz - Solidaritätsbeitrag
Webseite des Bundesamtes für Justiz mit dem Gesuchsformular - Wiedergutmachungsinitiative
Informationen auf der Website des Initiativkomitees - Administrativ-Versorgte
Website von Betroffenen
Zwangsmassnahmen, die Menschenrechte verletzten
Unter dem Begriff «fürsorgerische Zwangsmassnahmen» fasst das zuständige Eidg. Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) unterschiedliche Kategorien von Behördenentscheiden zusammen, wie sie bis ca. 1981 nach einer gängigen Praxis erfolgten. Dabei handelt es sich um Massnahmen, die zu drastischen Eingriffen in das Leben der Betroffenen führten, ohne dass die Behörden diesen Menschen die minimalen Verfahrensrechte gewährt hätten. Es geht dabei unter anderem um Kinder, die aus sozialen Gründen fremdplatziert wurden (u.a. Verdingkinder), um Männer und Frauen, die in Strafanstalten «versorgt», zwangssterilisiert oder gezwungen wurden, ihre Kinder zur Adoption freizugeben (siehe zur Vorgeschichte und Problematik den Artikel Ein Vergehen gegen die Menschenrechte: Fürsorgerische Zwangsmassnahmen nach altem Recht).
«Versorgte» per Gesetz rehabilitiert
Am 1. August 2014 trat ein Gesetz in Kraft, das Personen, die administrativ versorgt wurden, rehabilitiert. Das Gesetz ging auf eine Parlamentarische Initiative von Paul Rechsteiner aus dem Jahre 2011 zurück und wurde am 1. April 2017 durch das neue Gesetz abgelöst.
Anfang November 2014 hat der Bundesrat sodann entschieden, dass er das begangene Unrecht an Zwangsversorgten aufarbeiten lassen will. Er hat eine Kommission beauftragt, die administrativen Versorgungen und ihre Folgen für die Betroffenen wissenschaftlich zu untersuchen. Die Kommission wird geleitet vom früheren Zürcher Justizdirektoren und Juristen Markus Notter (SP). Weitere Mitglieder sind die Historiker Thomas Huonker, Martin Lengwiler, Anne-Françoise Praz und Loretta Seglias sowie der Psychiater Jacques Gasser, der Zürcher Staatsarchivar Beat Gnädinger, der Jurist Lukas Gschwend und Gisela Hauss von der Hochschule für soziale Arbeit in Olten SO. Die Kommission hat ihre Arbeit 2015 aufgenommen und wird sie Ende 2018 abschliessen.
Des Weiteren hat der Bundesrat am 22. Februar 2017 ein neues Nationales Forschungsprogramm (NFP) zum Thema «Fürsorge und Zwang – Geschichte, Gegenwart, Zukunft» lanciert. Gemäss der Medienmitteilung des Bundesrates soll das Programm «…aus historischer Sicht sowie aufgrund aktueller Entwicklungen gesellschaftliche Wirkungen und Folgen von Fürsorge und Zwang – auch bei Betroffenen von nicht-administrativen Massnahmen – untersuchen und neue Erkenntnisse generieren.»
- Bundesrat lanciert neues Nationales Forschungsprogramm zum Thema «Fürsorge und Zwang»
Medienmitteilung des Bundesrates, 22. Februar 2017 - Ausgegrenzt und weggesperrt: Wie und warum?
Webseite der unabhängigen Expertenkommission Administrative Versorgung - Markus Notter präsidiert Kommission zur wissenschaftlichen Aufarbeitung der administrativen Versorgungen
Medienmitteilung des Bundesrates, 5. Nov. 2014 - Administrativ versorgte Menschen werden rehabilitiert
Medienmitteilung des Bundesrats, 21. Mai 2014 - Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen
vom 21. März 2014 (pdf, 2 S.) - Rehabilitierung adminstrativ versorgter Menschen (11.431)
Parlamentarische Initiative Paul Rechsteiner (mit Links auf die Wortprotokolle der Räte) - Vom Umgang mit vergangenem Unrecht. Wie die Schweiz nach neuen Wegen sucht, historische Menschenrechtsverletzungen wiedergutzumachen
SKMR-Newsletter vom 30. Juni 2014
Koordinationsstelle
Im April 2013 hat das EJPD darüber hinaus mit Luzius Mader einen Delegierten für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ernannt. Dessen Website informiert über aktuelle Schritte in der Aufarbeitung und Wiedergutmachung. Auch sind auf kantonaler Ebene Anlaufstellen für Betroffene eingerichtet worden.
- Delegierter für Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen
Website des Delegierten
Runder Tisch
2013 hatte das EJPD einen Runden Tisch für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen lanciert. Der Runde Tisch koordiniert die Aufarbeitung aller historischen, juristischen, finanziellen, gesellschaftspolitischen und organisatorischen Fragen im Zusammenhang mit fürsorgerischen Zwangsmassnahmen. Er steht unter der Leitung von Bundesrätin Simonetta Sommaruga, bzw. ihres Delegierten Luzius Mader. Beteiligt sind Betroffene, Kantone, Gemeinden, Städte, Institutionen, Kommissionen sowie die Wissenschaft.
Fonds für Soforthilfe
Auf Initiative des Runden Tischs ist im Februar 2014 ein Fonds für Soforthilfe an Opfer eingerichtet worden, die sich in einer Notlage befinden. Vom Sommer 2014 bis Juli 2015 nahm der von der Glückskette verwaltete Fonds die Gesuche von notleidenden Betroffenen entgegen. Gemäss einer Mitteilung des Eidgenössischen Justiz-und Polizeidepartements vom 05. Juli 2016 haben 1117 Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen innerhalb zweier Jahre insgesamt 8.7 Millionen Franken Soforthilfe erhalten. Die Leistungen der Soforthilfe dienten als Überbrückungshilfe, bis eine gesetzliche Grundlage für die Aufarbeitung geschaffen wurde. Ein entsprechendes Gesetz trat am 1. April 2017 in Kraft.
- 8,7 Millionen Soforthilfe für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen
Medienmitteilung des Eidgenössischen Justiz-und Polizeidepartements (EJPD), 05.07.2016 - Soforthilfe für Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen: erste Bilanz
Medienmitteilung des Bundesrates, 09.07.2015 - Fürsorgerische Zwangsmassnahmen: Finanzielle Soforthilfe gut angelaufen
Medienmitteilung des BJ, 29. Dez. 2014 - Informationen und Link auf Liste der kantonalen Anlaufstellen
Informationen auf der Website des Delegierten - Lotto-Millionen für Verdingkinder und Versorgte
TagesAnzeiger vom 27. Jan.2014
Weitere Vorschläge
Der Runde Tisch für die Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen hat im Juli 2014 einen Bericht mit zahlreichen Massnahmenvorschlägen zuhanden der politischen Behörden verabschiedet. Er schlägt namentlich finanzielle Leistungen zugunsten der Opfer vor, aber auch deren Beratung und Betreuung, eine umfassende Aktensicherung und Akteneinsicht sowie die wissenschaftliche Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels der Schweizer Sozialgeschichte.
- Informationen zum Runden Tisch und zur Soforthilfe
Infobrief der Eidg. Kommission für Frauenfragen EKF vom Juli 2014 (pdf, 2 S.) - Runder Tisch auf Kurs
Medienmitteilung des Bundesamts für Justiz, 6. Juni 2014
Abschluss des Runden Tisches
Am 8. Feb. 2018 hat der Runde Tisch seine letzte Sitzung abgehalten.
- Fürsorgerische Zwangsmassnahmen: Der Runde Tisch hat seine Aufgaben erfüllt
Medienmitteilung des Budesamts für Justiz vom 8.02.2018
Materialien zum Thema
- 300 Millionen für ehemalige Verdingkinder
NZZ; 15. September 2016 - Solidaritätszahlungen für Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen
Webseite der Wiedergutmachungsinitiative, 23. Dezember 2016 (online nicht mehr verfügbar) - Dossier Verfahrensrechte
Website der EKF mit Informationen zu administrativ versorgten Personen - Administrativ Versorgte sollen rehabilitiert werden
NZZ-Online, 25. Februar 2013 - Eine Bergier-Kommission für Zwangsversorgte
Artikel für Infosperber, 21. November 2012 - Einst Weggesperrte sind durch Entschuldigung moralisch rehabilitiert
Swissinfo, 11. September 2010 - Ein Grundrechtslehrbuch, einmal anders
Hinweis von Domique Strebel auf sein Buch zum Thema Adminstrativ-Versorgte - Zur Erziehung ins Gefängnis
Der Beobachter 06/08 vom 20. März 2008 (pdf, 3 S.) - Rehabilitation verweigert
Der Beobachter 18/09 (pdf, 2 S.) - «Was sie mit uns gemacht haben!»
Der Beobachter 20/08 (pdf, 3 S.) - Moralische Wiedergutmachung - Interpellation 09.3440 von Jacqueline Fehr
Dokumentation auf der Website der Parlamentsdienste - Switzerland's stolen Generation
SBS vom 15. Mai 2012 (online nicht mehr verfügbar) - Mise au Point. Invitée : Ursula Biondi, ex détenue administrative.
RTS.ch vom 13. Mai 2012 - Die alte Zeit war nicht gut
Tages-Anzeiger, 1. September 2010 (pdf, 4 S.)