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Bundesgerichtspraxis zur Dispens vom Schwimmunterricht in der Schweiz

30.05.2013

Schwimmunterricht ist obligatorisch, egal welcher Religion Schülerinnen zugehörig sind. So müssen auch muslimische Mädchen in geschlechtsreifem Alter am Schwimmunterricht teilnehmen. Dies zumindest dann, wenn die Schule dem Umstand der Geschlechtsreife Rechnung trägt. Das hat das Bundesgericht in einem kürzlich gefällten Entscheid (Urteil 2C_1079/2012 vom 11. April 2013) entschieden und bestätigt damit seine seit 2008 eingeschlagene Praxis. Das gewichtige öffentliche Interesse, die Integration von Angehörigen des muslimischen Glaubens, erlaube es, das Grundrecht der Glaubensfreiheit in verhältnismässiger Weise einzuschränken.

Das Bundesgericht führt im Urteil 2C_1079/2012 mit Hinweis auf den Bundesgerichtsentscheid 135 I 79 aus, dass die soziale Einbindungsfunktion der Schule es erfordere, dass sie für alle obligatorisch sei und Dispensationen deshalb nur mit Zurückhaltung zu gewähren seien. Daraus ist zu schliessen, dass Kantone auch weiterhin über einen angemessenen Spielraum bezüglich der Handhabung von Dispensationengesuchen verfügen.

Der nachstehende Artikel skizziert einen Überblick über die Entwicklung der Praxis des Bundesgerichts im Zusammenhang mit der Dispens vom Schwimmunterricht in der Schweiz. 

Rechtsprechung bis 2008

Im BGE 119 IA 178 ff. vom 18. Juni 1993 hiess das Bundesgericht die Beschwerde eines muslimischen Vaters gut, der seine Tochter vom Schwimmunterricht aus religiösen Gründen dispensieren wollte. Da der islamische Glaube ein gemischtgeschlechtliches Schwimmen nicht zulasse, stelle die Pflicht zum koedukativen Schwimmunterricht einen Eingriff in die Religionsfreiheit dar. Deshalb habe die rechtsanwendende Behörde im Einzelfall zu prüfen, ob das Beharren auf einer Bürgerpflicht (i. c. das Schulobligatorium) im überwiegenden öffentlichen Interesse liegt, bzw. ob der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt wird.

Nach einer Interessensabwägung kam das Bundesgericht zum Schluss, dass das öffentliche Interesse an der Einhaltung des Schulobligatoriums niedriger zu Gewichten sei, als das Interesse der Gesuchsteller, als eine Familie ihren Glaubensvorstellungen nachleben zu können. Dies obwohl der Sportunterricht unbestrittenermassen ein wichtiger Teil des staatlichen Bildungsauftrags darstelle, der aber durch eine Dispensation vom Schwimmunterricht, der nur einen kleinen Teil des Turnunterrichts bilde, nicht gefährdet werde.

Abschliessend führte das Bundesgericht aus, dass Angehörige anderer Länder und Kulturen, die sich in der Schweiz aufhalten, sich zweifellos an die hiesige Rechtsordnung zu halten haben. Es bestehe aber keine Rechtspflicht, dass sie darüber hinaus allenfalls ihre Gebräuche und Lebensweisen anzupassen haben. Aus dem Integrationsprinzip lasse sich deshalb keine Rechtsregel ableiten, wonach sich Angehörige anderer Länder und Kulturen in ihren religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen einschränken müssten, die als unverhältnismässig gelten. Das Bundesgericht wertete die Religionsfreiheit der Kinder und Eltern und das Erziehungsrecht der Eltern wichtiger als das Interesse des Staates an der Durchführung des Schwimmunterrichts.

Rechtsprechung ab 2008

Praxisänderung infolge veränderter soziokultureller Bedingungen

Das Bundesgericht hatte seine Rechtssprechungspraxis im Herbst 2008 nach einer erneuten Güterabwägung zwischen der Religionsfreiheit und der Pflicht zur Teilnahme am obligatorischen Schulunterricht geändert. Die Bundesrichter wiesen im Bundesgerichtsentscheid 135 I 79 vom 24. Oktober 2008 mit drei zu zwei Stimmen die Beschwerde eines muslimischen Elternpaars ab, welches ihre beiden Söhne im Primarschulalter (4. und 5. Klasse) vom gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht befreien wollte.

Das Bundesgericht begründete die Praxisänderung mit den veränderten sozialen Bedingungen. Den Integrationsanliegen sei laut Gericht in den letzten Jahren immer grösseres Gewicht beigemessen worden. Unter anderem auch, da sich die religiöse Zusammensetzung der schweizerischen Wohnbevölkerung massgeblich verändert habe. Glaubensansichten würden grundsätzlich nicht von den bürgerlichen Pflichten entbinden. Ausserdem sei Schwimmen eine wichtige Fähigkeit. Die von der Religion geprägte Regel, welche vorschreibt, keine leicht bekleideten Körper anzuschauen, wurde von den Richtern dagegen weniger stark gewichtet. Heute seien solche Blicke in der Badeanstalt oder in den Medien sowieso kaum vermeidbar.

Das Bundesgericht entschied damit, dass der Entscheid des Schaffhauser Obergericht den gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht – verbunden mit flankierenden Massnahmen wie eigene körperbedeckende Badebekleidung, getrenntes Umziehen und Duschen – auch für muslimische Kinder vorzuschreiben, nicht als unzulässiger Eingriff in die Religionsfreiheit zu werten sei.

Das Schaffhauser Obergericht hatte sich im Dezember 2007 (OGE 60/2007/24 vom 14. Dezember 2007 ) gegen den bisher richtungsweisenden Bundesgerichtsentscheid von 1993 gestellt. Dieses Schaffhauser Urteil deckte die Praxisänderung des Schaffhauser Erziehungsdepartements, solche religiös begründete Dispensationen nicht mehr zuzulassen. In seiner Argumentation verwies auch das Obergericht auf die in den letzten Jahren veränderte Ausgangslage, insbesondere die erhöhte Gefahr einer gesellschaftlichen Desintegration und des religiösen Fundamentalismus, aber auch auf die verstärkte rechtliche Bedeutung der Geschlechtergleichstellung und der Ausländerintegration.

Kantone haben Spielraum

Die Praxisänderung ermöglicht den Kantonen eine entsprechende harte Integrationslinie zu verfolgen. Es bedeutet hingegen nicht, dass alle Kantone Dispensationsgesuche aus religiösen Gründen ablehnen müssen. Diesbezüglich haben die Kantone richtigerweise weiterhin einen Spielraum. Der Präsident unterstrich in seinem Schlusswort, dass dieses Urteil nicht gegen Muslime oder die Religionsfreiheit als solche gerichtet sei. Der Entscheid stehe vielmehr für starke staatliche Schulen, die ihren Integrationsauftrag zu erfüllen hätten.

Aus Sicht der Rechtsgleichheit ist wichtig, dass diejenigen Kantone, die eine «harte Linie» fahren, mit allen Dispensationsgesuchen, in denen religiöse Argumente vorgebracht werden, analog verfahren. Das heisst, Dispensationsgesuche von christlichen und jüdischen Familien müssten in einem solchen Kanton ebenfalls grundsätzlich abgelehnt werden.

Die mögliche Gefahr einer spezifischen Diskriminierung von Angehörigen des muslimischen Glaubens wird von den Betroffenen dennoch geäussert. Ein Kommentar auf der Website islam.ch verweist darauf, dass viele Dispensgesuche für Schwimmunterricht oder Teilnahme an Schullagern nicht von Muslimen, sondern von fundamentalistischen Christen kämen. Wenn das Urteil künftig nur für Muslime angewandt werde, sei dies «nach der Minarettinitiative ein weiteres Beispiel für die immer offenkundiger werdende Diskriminierung der muslimischen Glaubensgemeinschaft in der Schweiz». Es bleibe nun abzuwarten, wie dieser Rechtsspruch in die Praxis umgesetzt werde.

Bestätigung der Praxisänderung

Das Bundesgericht stützt Kantone, welche Kinder grundsätzlich nicht mehr vom obligatorischen gemischtgeschlechtlichen Schwimmunterricht dispensieren, wenn religiöse Gründe geltend gemacht werden. In dieser Frage bleibt das Bundesgericht seiner im Herbst 2008 geänderten Rechtsprechung treu. Dies geht aus einem Urteil 2C_666/2011 vom 7. März 2012 hervor, mit dem die Beschwerde eines muslimischen Elternpaars abgewiesen wurde. Das Ehepaar wurde von den Basler Schulbehörden mit je 700 Franken gebüsst, weil sie ihre zwei noch nicht zehnjährigen Töchter vom Schwimmunterricht ferngehalten hatten.

Die Eltern der beiden Mädchen hatten geltend gemacht, dass eine islamisch orientierte Schamerziehung gemischten Schwimmunterricht schon vor Beginn der Pubertät untersage, um die Kinder auf die späteren Regeln vorzubereiten.

Das Bundesgericht hielt fest, es bestehe nach wie vor ein gewichtiges öffentliches Interesse an der Integration muslimischer Bevölkerungskreise. Dieses öffentliche Interesse erlaube es, gestützt auf die gesetzliche Grundlage im kantonalen Schulgesetz und den darauf basierenden Lehrplan, das Grundrecht der Glaubensfreiheit in verhältnismässiger Weise einzuschränken.

Praxisänderung auch anwendbar bei Mädchen in geschlechtsreifem Alter

Erneut bestätigt das Bundesgericht seine seit 2008 eingeschlagene Rechtsprechung und konkretisiert diese mit dem Urteil 2C_1079/2012 vom 11. April 2013. So führe die grosse Bedeutung des integrativen Schulunterrichts zum grundsätzlichen Vorrang der schulischen Pflichten, gegenüber der Beachtung religiöser Gebote einzelner Bevölkerungsteile.

Gemäss dem Bundesgericht müssen auch muslimische Mädchen in geschlechtsreifem Alter den obligatorischen Schulunterricht besuchen. Dies zumindest dann, wenn die Schule dem Umstand der Geschlechtsreife Rechnung trägt. Mit dem Geschlechtern getrennten Schwimmunterricht sei die Schule diesem Umstand gerecht geworden. Zudem verfüge das Hallenbad über Einzelkabinen zum Duschen und Umziehen. Ebenfalls sei das Tragen eines Burkini erlaubt gewesen.

Der Einwand der geschlechtsreifen Schülerin, der Unterricht werde von einem Mann geleitet, resp. der Wunsch von einer Frau unterrichtet zu werden, sei gemäss Bundesgericht nachvollziehbar. Dieser Wunsch sei jedoch nicht ausschliesslich religiös motiviert, sondern als Ausdruck des persönlichen Entwicklungsstandes zu sehen, welcher unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Glaubensgemeinschaft bestehe. Die Tatsache, dass die Schülerin bereits schwimmen könne, führe weiter dazu, dass im Gegensatz zum Unterricht bei Nichtschwimmern kein körperlicher Kontakt zwischen dem Schwimmlehrer und der Schülerinnen nötig sei, weshalb der Grundrechtseingriff als geringfügig und verhältnismässig einzustufen sei.

Abschliessend vertritt das Bundgericht die Überzeugung, dass die integrative Wirkung des Schwimmunterrichts am Besten im Klassenverband erzielt werden könne. Mit der Forderung, den obligatorischen Schwimmunterricht mit einem privaten Schwimmunterricht für Muslimen ausserhalb der Klasse zu ersetzten, werde die Tatsache verkannt, dass dadurch gerade keine Integration sondern vielmehr eine unerwünschte Segregation erreicht werde. Muslimische Schüler würden in eine Aussenseiterrolle versetzt und dadurch die Entstehung von parallelen Gesellschaftsstrukturen begünstigt.

Dokumentation

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